#Prosa

sehen & nicht sehen

Barbara Macek

// Rezension von Christine Schranz

„dunkelheit.“ Das erste Wort, gleichzeitig der erste Satz, so kurz, dass der eilige Leser versucht sein könnte, ihn nicht zu beachten, spiegelt bereits das zentrale Thema, das sich in den nächsten dreizehn Kapiteln von Barbara Maceks Werk immer weiter entfaltet, sowie ein wesentliches Stilelement wider: Der namenlos bleibende Erzähler, der zum deprimierten Sprachrohr einer vereinsamten Gesellschaft, einer Existenz der Armut im Überfluss wird, tappt im Dunkeln. Auf der Suche nach Sinn, einer zentralen Ordnung und einem Leben, das sich weniger nach Stillstand und Leere anfühlt, weiß er nicht, wohin er sich wenden soll. Sein asynchroner Lebensrhythmus, in dem Tag zu Nacht und Nacht zu Tag wird, wird zum Symbol der Ziellosigkeit, mit der er sich durchs Leben tastet. Doch orientierungslos im Finsteren weist auch der größte Wille zum Aufbruch nicht den Weg durch das Dunkel; die richtige Richtung bleibt verborgen im Schwarz von Verzweiflung und Nacht.

 

„dunkelheit.“ beschreibt nicht nur, wie sich der Protagonist fühlt, sondern ist auch ein erster Hinweis auf die Farbsymbolik, die eine zentrale Rolle spielt und an Hand derer sich die wechselnden Empfindungen des Protagonisten abzeichnen. In der Regel werden Vorgänge beschrieben, nicht aber Gefühle. Diese hingegen finden sich umso intensiver in den Farben, in denen der Erzähler seine Umgebung wahrnimmt: Der Tod wie auch der Morgen sind schwarz – der Protagonist erwacht jeden Abend orientierungslos in einem Meer aus Trostlosigkeit. Die Apothekerin, die er im Verlauf der Handlung kennen lernt, wird hingegen als „hellgelb leuchtend“ beschrieben. Die Farbpsychologie bezeichnet Gelb als eine Farbe, die beim Betrachter Optimismus auslöst und Vorwärtsstreben suggeriert. Im Text, in dem das Thema der Gegensätze im Sinne von hell und dunkel und Tag und Nacht immer wieder aufgegriffen wird, steht Gelb für einen Lichtblick im dunklen Leben des Protagonisten, für die Möglichkeit einer Veränderung zum Positiven – der Ich-Erzähler lernt die Apothekerin kennen, begleitet sie nach Hause und teilt das Bett mit ihr.

Im Kapitel „friedhof auf zeit“ wird erneut mit Farbmetaphern gespielt. Es kommt zu einem wütenden Sich-Auflehnen gegen die Trostlosigkeit: „aus der flachheit sollten hügel und gräben entstehen, klippen und schluchten, berge und seen. aus ärgerlichem grau sollten grelle farben hervorbrechen, die in den augen schmerzten -“ . (S. 73) Der Protagonist sehnt sich nach einem Erwachen aus dem sinnentleerten Alltag, nach Emotionen, Zielen und Hindernissen – nach einem bunten Leben.

Etwas später, nachdem der Kampf gegen die Depression durch die Eroberung der Apothekerin kurzfristig von Erfolg gekrönt zu sein scheint, stürzt das Gelb – in der Farbpsychologie eine kontradiktorische Farbe, die neben Optimismus auch Verrat symbolisiert – erneut in sich zusammen, wird „ein violetter geschmack, hinterlassen von verzweiflung, welche bekanntlich nichts anderes als die negativ-form von begeisterung ist.“ (S. 78) Anschließend wird in kurzen Sätzen die emotionslose Sexszene beschrieben, die mit Verrat – der zweiten Dimension der Farbe gelb – endet: „ich nahm ihre hand, sie ließ mich fallen.“ (S. 78)

Barbara Macek erzählt nicht nur die Geschichte eines einsamen Depressiven, sondern legt mit „sehen und nicht sehen“ auch das pessimistische Bild einer Gesellschaft der Armut im Überfluss, der Einsamkeit in der Menge vor. Der Protagonist lebt in einer nicht näher genannten Stadt, sollte per definitionem also Teil eines pulsierenden Ganzen sein, ein kleines Rädchen in einer gut geölten Maschine. In einer Gesellschaft fehlender sozialer Netze und auf ein Minimum reduzierter persönlicher Kommunikation ist es jedoch nicht schwierig, unglücklich und unbemerkt ein einsames Dasein zu fristen. Er zeichnet „[…] gesichter ohne augen, augen ohne gesichter.“ (S. 9) und damit ein Gesellschaftsporträt, in dem persönliche Kontakte auf ein Minimum reduziert, durch Kommunikation auf Distanz – sei es über Post oder Internet – ersetzt werden. Auch der Ich-Erzähler wird Teil des Systems, indem er gestohlene Geräte über Online-Auktionshäuser verkauft und per Post an zahlungswillige Interessenten versendet. Er lebt „mit musikabspiel- und datenverarbeitungsgeräten, einem gas- und einem mikrowellenherd, küchenkästen, abwasch, sanitären anlagen, […]“ (S. 10) und fühlt sich dabei selbst als Maschine oder Einrichtungsgegenstand. Ohne dem Leben einen unmittelbaren Sinn abgewinnen zu können, reflektiert er über Zeit und Vergänglichkeit und sehnt sich dabei immer wieder nach menschlichem Kontakt, wobei er an frühere zwischenmenschliche Begegnungen denkt, sich ein „aus sich heraustreten in einen anderen eintreten.“ (S. 35) wünscht. Die konstante Kleinschreibung, Ellipsen und fragmentarische Gedanken spiegeln die Nichtigkeit seiner Existenz, die Kleinheit seiner selbst und die empfundene Sinnlosigkeit zwischen aus den Medien ungefiltert auf ihn niederprasselnden Informationsbruchstücken, bedeutungslosen Fakten, die vollkommen irrelevant scheinen.

Materielles, erkennt der Protagonist, ist, was ihn unglücklich macht und beengt: „je weniger ich hatte, desto mehr brauchte ich, oder: je mehr ich hatte, desto mehr war ich nicht ich …“ (S. 68) Erst als er in einem gestohlenen PKW die Stadt, das Sinnbild seines persönlichen Stillstandes, verlässt, gelingt es ihm, sich frei zu fühlen: „es war die befreiung von einem vorleben, das ich nicht gehabt, aber das mich in besitz genommen hatte.“ (S. 79) Befreit von der Stadt, einem Ort der Passivität inmitten fremder Bewegungen, stellt sich nun erstmals ein Gefühl von Kontrolle ein.

Kurz darauf endet die Geschichte des Protagonisten mit einer Verurteilung wegen Diebstahls und Gefährdung der Verkehrssicherheit in einer Gefängniszelle. Erst hier, hinter den Gitterstäben, fühlt er sich vollkommen frei und sicher vor einem todgleichen Leben und empfindet erstmals ein Gefühl der Zufriedenheit. Die strenge Ordnung des Gefängnisses gibt ihm ein bisher nicht gekanntes Gefühl der Sicherheit. In seiner Wohnung, der Freiheit, stellt er auf der vergeblichen Suche nach einem Plan, unumstößlichen Gesetzen und Regeln, fest: „meine inneren ordnungsversuche endeten wie die äußeren sehr schnell an einer nicht existierenden wand.“ (S. 43) Am Ende wird klar, dass es genau das Fehlen dieser Wand ist, das ihn zu einem Gefangenen seiner Selbst macht. Die Zellmauer ist es, die ihm innere Freiheit verschafft; er betrachtet sie und erkennt dabei sich selbst sowie den Sinn, nach dem er bisher vergeblich gesucht hat. Der Sinn, stellt er beim Betrachten der Mauer fest, besteht im Nichts. Indem er dem Nichts Bedeutung zugesteht anstatt gegen die Bedeutungslosigkeit anzukämpfen, kann er aufhören, zu suchen und innere Ruhe finden.

Der Leser begleitet den Protagonisten auf seiner einsamen Reise durch ein sinnleeres Leben und sieht immer nur genauso viel (nicht) wie auch der Erzähler. Der einzige Gesprächspartner desselben ist der Tod, der als Fantasiefreund fungiert. Zu Anfang hört der Tod aufmerksam zu, sitzt mit am Frühstückstisch, lässt sich geduldig Worte in den Mund legen, simuliert beim Essen höflich Kaubewegungen. Eines Tages jedoch verschwindet er, und Protagonist wie auch Leser warten vergeblich auf ihn. Des einzigen Gesprächspartners beraubt, steigern sich die Verzweiflung des Erzählers und – paradoxer Weise – auch seine Existenzangst zusehends, bis sich der Kreis auf den letzten Seiten seiner Geschichte wieder schließt. Er findet innere Zufriedenheit und Sinn sowie in Folge auch wieder den Tod auf der Kante seines Gefängnisbettes. An dieser Stelle endet die Geschichte mit dem Tod des Protagonisten, sofern man sie linear von Anfang bis Ende denkt. Genauso lässt sie sich aber auch als Zyklus lesen. Der Beginn – „dunkelheit. ich schlug die augen auf, […]“ ist untrennbar mit dem Ende – „helligkeit. ich schloss die augen.“ verbunden. Erinnert man sich an eine Textstelle im mittleren Teil des Buches, lässt sich das Ende der Handlung auch anders, nämlich nicht als Tod des Protagonisten und somit Schlussstrich eines linearen Erzählstrangs, sondern Schweißstelle einer Endlosschleife, einer Erzählung, die sich immer weiter um sich selbst bewegt, sehen: „ich hatte irgendeine komische reise angetreten bei meinem letzten kreislaufkollaps. […] im hintergrund die projektion eines stummfilmringkampfs als endlosschleife. schweigendes schwarzweiß, grauschattierter handlungsablauf.“ (S. 64f)

Die Endlosschleife – der Kampf gegen ein scheinbar sinnloses Leben an der Hand des Todes, die im Kopf des Protagonisten abläuft, beginnt, möchte man es so sehen, mit dem Ende: „als alles gleichzeitig da war, brach alles gleichzeitig ab.“ (S. 86) Das Ende lässt sich somit auch als der erwähnte Kreislaufkollaps sehen, der nahtlos in den Beginn, den „grauschattierten Handlungsablauf“, übergeht. Die zyklische Lesart sprengt für den Leser eben jene Grenzen, in denen sich das Denken des Protagonisten verfängt – ein Werk, dessen Faszination im Spiel mit subtilen Paradoxien liegt.

Barbara Macek sehen & nicht sehen
Erzählung.
Wien: Czernin, 2006.
87 S.; geb.
ISBN 3-7076-0090-4.

Rezension vom 19.07.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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