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Seepferdchen. Ein Portrait

Andrea Grill

// Rezension von Holger Englerth

Im aktuellen Nature Writing-Boom ist Andrea Grill ein Glücksfall. Sie weiß, wovon sie spricht, hat sie doch Biologie sowohl studiert als auch praktiziert und gelehrt, und braucht außerdem als Schriftstellerin kaum mehr vorgestellt zu werden. Das macht sie zur idealen Autorin der außergewöhnlichen Naturkunden-Reihe des Matthes & Seitz Verlages.
Seepferdchen ist nach Schmetterlinge (2016) bereits der zweite Band, den Andrea Grill für die Portraits der Naturkunden-Reihe verfasst.

39 Portraits über einzelne Tier- und Pflanzenarten sind bei Matthes & Seitz mittlerweile erschienen, stets schmal im Umfang, aber mit dem hohen Anspruch „von einem Blick auf eine Natur, die uns selbst mit einschließt“ geleitet zu sein, wie es auf der Verlagsseite heißt. Dass es außerdem ausgesprochen schöne und liebevoll gemachte Bücher sind, dafür bürgt die Herausgeberin der Reihe, Judith Schalansky.

Mit den Seepferdchen hat Grill nun eine zweifellos außergewöhnliche Tiergattung ins Blickfeld genommen. Nicht nur verfügen Seepferdchen über eine rasante Genomentwicklung, die sie überaus anpassungsfähig macht, sie sind auch keineswegs stumm, wobei Bedeutung und Funktion der (Klick-)Geräusche, die sie produzieren, noch keineswegs entschlüsselt sind.

Andrea Grill begibt sich auf einen abwechslungsreichen Streifzug: von Tauchausflügen an den Stränden Albaniens, am australischen Great Barrier Reef oder an der Südküste Südafrikas bis zu Besuchen im Haus des Meeres und dem Kunsthistorische Museum in Wien, dem Rijksmueum oder dem Zee Aquarium in den Niederlanden. Sie erinnert an Lady Anna Thynne, der es bereits 1846 gelang, „das erste ausbalancierte Aquarium Londons zu gestalten“ (S. 41), indem sie mittels eingesetzter Pflanzen und Algen für Sauerstoffanreicherung sorgte, und die damit am Beginn einer möglichen Begegnung des Menschen mit Seepferdchen auch fern ihres natürlichen Habitats stand. Oder an die Sea-horse-Farmerin Carol Schmarr, die mit ihrem Unternehmen ein alternatives Angebot zum zerstörerischen Massenwildfang v. a. für die Traditionelle Chinesische Medizin bieten will. Oder an die Tauchlehrerin Savannah Nalu Olivier, die erstmals ein Exemplar der Art Hippocampus nalu fotografierte, ein extrem schwer zu findendes Zwergseepferdchen. Der gekonnt illustrierte Band schließt mit 10 Artenportraits nebst wunderschönen Zeichnungen von Falk Nordmann.

„Erzähle ich, worüber ich schreibe, reagieren meine Gegenüber oft so, dass ich merke, sie denken, es handle sich um exotische Tiere, die in unseren Ländern nicht vorkommen“ (S. 49-50), berichtet Andrea Grill. Doch sie leben an allen Küsten Europas, bis zu denen von Deutschland und der Ukraine, „überall dort, wo Menschen gerne Urlaub machen und ihre spärlichen Schwimmkünste ausüben, wären Habitate für Seepferdchen“ (S. 51). Selbstverständlich unterschlägt die Autorin nicht, wie gefährdet die Arten sind, sie macht zudem in nüchterner Ehrlichkeit deutlich, dass es kein einfaches Rezept zu ihrer Rettung gibt. Die Schilderungen der verheerenden Folgen der Schleppnetzfischerei gehören zu den unbequemsten Stellen im Buch. „Doch weil es unter der Oberfläche der Meere geschieht, tangiert es uns wenig.“ (S. 105) Sollte es aber.

Der Seepferdchen-Band ist von einer ganz anderen Stimmung als Grills erstes Buch in der Portrait-Reihe über Schmetterlinge, ein Vergleich der beiden ist reizvoll: Falter sind ihr ausgewiesenes Fachgebiet, ihre Kenntnisse gingen bei diesem Band weit über den zur Verfügung stehenden Rahmen hinaus. Die merkwürdigen Fische allerdings fordern der Autorin einen anderen Zugang ab, der nicht zuletzt durch ein Suchen nach dem Tier selbst bestimmt ist, im ganz praktischen, eigentlichen Sinn. Und so begibt sie sich immer wieder unter Wasser und nimmt uns mit – und lässt uns auch das fortgesetzte Scheitern auf ihrer Suche nach dem Objekt des Begehrens miterleben.

Andrea Grill hat das Tierportrait in der Naturkunden-Reihe mit dieser Schreibbewegung der stets neu beginnenden Suche ideal getroffen: Weder geht es um eine wissenschaftlich hyperexakte Fixierung äußerer Fakten, noch um eine kultur-, literatur- oder philosophiegeschichtliche Definition eines Tieres, sondern um – alles davon, aber so, dass es auch Vergnügen bereitet.

Es ist nicht nur der Wechsel vom wissenschaftlichen zum literarischen Tonfall, der diesen Band auszeichnet, sondern generell der ständige Perspektivenwechsel, der so unauffällig daherkommt, dass er weniger als Bruch wahrgenommen wird, sondern vielmehr als lebendiger Denk- und Wahrnehmungsprozess. Und dabei schafft es Grill, die Seepferdchen selbst nicht aus den Augen zu verlieren. Der Blick in andere Bände der Naturkunden beweist das reale Gefahrenpotential, das jeweils zu portraitierende Tier lediglich als Sprungbrett der eigenen geistigen Höhenflüge zu nützen und damit letztlich zu enttäuschen. Dem stellt sich Grill schon allein dadurch entgegen, dass sie die Grenzen des eigenen, aber auch des gesicherten Wissens der Wissenschaft im Allgemeinen ohne Furcht und Scham benennt – und darüber hinaus die Realitäten der Produktion von Wissen nicht ohne Ironie beschreibt:

„Im Film über Amanda Vincent [eine Pionierin der Seepferdchenforschung] und ihr Projekt sehe ich, wie es in der Bauchtasche eines Seepferds aussieht. Sie brachte ein schwangeres Männchen in eine Geburtsklinik in Sydney zur Gynäkologin – zwischen lauter Frauen ein Meereslebewesen – und ließ mit einem Endoskop hineinschauen: Die Schwangerschaft wirkt fortgeschritten, die Babys füllen die Bauchtasche fast völlig aus. Zu zählen, wie viele es sind, ist unmöglich.“ (S. 65)

Grill geht es um die Verbundenheit der Wesen, die aus den Begegnungen entsteht. Bis in unsere Köpfe kann diese reichen, ist doch selbst eine Hirnregion des Menschen, der Hippocampus, aufgrund ihrer ähnlichen Form nach den Tieren benannt. Am Ende des Textes steht ein Tauchgang am Lido von Venedig, dessen unerwarteter Ausgang hier sicher nicht verraten wird.

 

Holger Englerth, Studium der Geschichte und Deutschen Philologie an der Universität Wien, Ausbildung zum Diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger. Diplomarbeit über „Asketische Praktiken von Frauen vom 4. bis zum 7. Jahrhundert“.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Projekte Literaturzeitschriften in Österreich 1945–1990, Literature on the Move, Tagebücher Andreas Okopenko und zur Österreichischen Gesellschaft für Literatur.

Andrea Grill Seepferdchen. Ein Portrait
Illustriert von Falk Nordmann.
Hg. v. Judith Schalansky.
Naturkunden No. 95
Berlin: Matthes & Seitz 2023.
143 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-7518-4002-6

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin und einer Leseprobe

Homepage von Andrea Grill

 

Rezension vom 22.12.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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