#Roman
#Prosa

Schwere Knochen

David Schalko

// Rezension von Marcus Neuert

Die Diagnose, jemand habe „schwere Knochen“ ist gemeinhin eine klassische Entschuldigung für als zu füllig empfundene Zeitgenossen. Bei Ferdinand Krutzler, dem Protagonisten von David Schalkos soeben erschienenem Roman dieses Namens, spielt allerdings weniger das Gewicht eine Rolle als seine schiere Körpergröße und sein ungeschlachtes Aussehen, das zusammen mit seiner Hornbrille an einen riesigen Hirschkäfer erinnert.

Er und seine Freunde Wessely, Sikora und Praschak kommen aus kleinen Verhältnissen und zerrütteten Familien, lernen sich in den frühen 1930er Jahren im damals verrufenen Wiener Vorort Erdberg kennen und geraten früh auf die schiefe Bahn. Sie lassen sich von den damaligen Größen der Unterwelt in die Kunst des Tresorknackens und der Trickdieberei einführen und machen schon bald mit einer Serie von spektakulären Einbrüchen von sich reden: die „Erdberger Spedition“, wie sich die vier fortan nennen, „evakuiert“ in wenigen Minuten ganze Wohnungen mit allem Mobiliar und allen Wertsachen. Als sie am Tag des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich 1938 einen stadtbekannten Nazi ausrauben, werden alle außer Praschak gefasst und für sieben Jahre als Kapos auf die KZs Dachau und Mauthausen verteilt, wo sie für die SS die Drecksarbeit bei der Drangsalierung der Häftlinge leisten müssen. Die Gewalterfahrungen der Haft machen sie erst recht zu den „Schweren Knochen“, die einerseits die schweren Jungs und andererseits die gebrochenen Knochen assoziieren lassen, und nach dem Krieg wieder vereint schicken sie sich an, mit den klassischen Sparten Schmuggel, Glücksspiel und Bordellbetrieb die Wiener Unterwelt zu übernehmen. Zwischen den Besatzungsmächten, lokaler Polizei und den Kriegsgewinnlern lavieren sich die vier mit eiserner Gewalt und gegenseitiger Verschworenheit durch. Eine jüdische Organisation gibt sogar Morde an ehemaligen Nazis bei ihnen in Auftrag, die von Krutzler & Co. größtenteils sehr diskret und als natürliche Tode inszeniert werden. Zwischen verräterischen Machenschaften und obsessiven Liebesaffären geraten sich die vier Verbrecher jedoch mit der Zeit so in die Haare, dass aus ihnen Todfeinde werden. Krutzler selbst stolpert am Ende über den siebenfachen Mord an einer rivalisierenden jugoslawischen Bande.

David Schalkos vierter Roman strotzt nur so von augenscheinlichen Stereotypien. Vor allem den Wienern erspart seine Erzählinstanz (die in diesem Falle mutmaßlich recht nah beim Autor zu verorten sein dürfte) kaum einen Vorwurf, der nicht zu den wohlfeilen Negativcharakterisierungen gehört: „Da man aber die Kunst des Wegsehens in Wien immer dann beherrschte, wenn das Hinsehen nach Umständen roch, wurde die kurze Irritation gleich wieder vergessen. Man ließ sich nicht gern aus dem Rhythmus bringen und hatte sich nach dem Staatsvertrag in eine innere Neutralität begeben, die dem Ehrenkodex der Unterwelt ‚Ich sehe nichts, ich höre nichts, ich sage nichts‘ zum Verwechseln ähnlich war.“ Das hat offenbar zeitlose Aktualität (und sicher nicht nur in Österreich). Natürlich bekommen auch die Deutschen ihr Fett weg: „Dann lächelte der Deutsche so, dass man seine goldenen Backenzähne sehen konnte. Der Krutzler zählte drei Juden, die er da im Mund trug.“

Aber auch andere Völker und Religionen erhalten ihre Charakterisierungen: „Und für einen Russen war es nichts Außergewöhnliches, dass sich jemand sein Sprachgefüge weggesoffen hatte“, heißt es an einer Stelle, an anderer ist von dem „Cocktail aus Habgier, Neugier, Misstrauen und Bewunderung“ die Rede, der dem „Juden Greenham“, einem der Erdberger Schmugglerkontakte, attestiert wird. Diese Zuschreibungen werden fast immer aus der Erzählperspektive heraus lanciert, nicht aus den ohnehin nur spärlich gesäten Dialogen des handelnden Personals, und gaukeln dadurch eine zweifelhafte Legitimität vor, mit der Schalko freilich stets nur spielt und sie dadurch umso mehr in Frage stellt. Man ist gleichzeitig angewidert und fasziniert von diesem Milieu und diesen Zuschreibungen – und sollte ruhig einmal mit sich selbst klären, warum das so ist.

Der Grundtenor lautet, dass Schalkos Protagonisten eine niedrige, gemeine Welt vorfinden und versuchen, sich so gut wie möglich in ihr zu positionieren. Das psychosoziale Moment des Romans überzeugt am wenigsten, ist allerdings unabdingbarer Ausgangspunkt und gleichzeitig der erzählerische Kitt für die haarsträubenden Anekdoten, die der Autor in Schwere Knochen aneinanderreiht. Er löst die Gefahr, in eine relative Banalität des Oftgehörten zu verfallen, allerdings geschickt dadurch, dass er genau diesen Effekt noch verstärkt und immer wieder Versatzstücke und Wendungen benutzt, die Zitate von Jerry Cotton oder Kara Ben Nemsi (der nicht zufällig in einer der Episoden eine wichtige Rolle spielt) sein könnten und mit ihrem Duktus das gesamte Sprachgebilde ordentlich durch den – mitunter sehr schwarzen – Kakao ziehen. David Schalko hat in ganz anderem Zusammenhang in einem Interview den schönen Satz geprägt: „Die Idee ist heimlich aus dem Raum gegangen, und niemand hat es bemerkt.“ Wenn es die Idee gewesen sein sollte, wie es der Klappentext postuliert, Figuren zu zeigen, deren „Seelen durch den Nationalsozialismus zerstört wurden“, dann hätte sich diese Idee tatsächlich verflüchtigt. Figuren und Erzählinstanz behaupten dies zwar immer wieder, die Leserschaft kann allerdings stets eine Form von abwiegelnder Selbstlegitimation heraushören: Wir sind zwar Verbrecher, aber die richtigen Schweinehunde sitzen ja ganz woanders. Es erscheint aber fraglich, ob sich das Kleeblatt um Krutzler ohne NS-Zeit und Krieg so grundlegend anders entwickelt hätte. Nein, die „Erdberger Spedition“ bestand auch schon in der Vorkriegszeit aus ausgemachten Schuften – wenngleich die Erfahrungen im KZ sie frühzeitig und nachhaltig „professionalisiert“ haben.

Schalko flicht immer wieder an entscheidenden Stellen Prolepsen ein, Vorgriffe auf spätere Ereignisse der Handlung, die allerdings genügend kryptisch wirken, um nicht den Spannungsbogen zu zerstören. Diese Methode verleiht der Story ihren legendenhaften Charakter, ohne den Erzählfluss zu beeinträchtigen. Die Leserschaft ahnt freilich, dass diese Geschichte nicht im eigentlichen Sinne „gut“ ausgehen kann und richtet den Blick so neben den zahlreichen am Rande eingeflochtenen schrulligen Begebenheiten gezielt auf die vom Autor ausgeführten Charaktereigenschaften der handelnden Personen. So entsteht ein durchaus kunstvolles Gewebe aus dem reinen Plot und der dann sehr nahe an der Perspektive der jeweils Agierenden positionierten Erzählinstanz, das die Lesenden über weite Strecken des Buches gefangen nehmen kann, obwohl es eigentlich keine einzige Figur gibt, mit der sie so recht in der Lage wären sich zu identifizieren. Die Frage ist allerdings ohnehin, ob es dieser Form von Identifikation bei einem geübten Lesepublikum überhaupt noch bedarf. Da Schalko vor allem auch ein Medienmann ist, der in Film und Fernsehen gern mit dem Abgründigen spielt, das süffisant bis zynisch von Außen einfach nur betrachtet wird wie ein exotisches Tier im Zoo, thematisiert er diese Frage implizit auch in seinen Büchern. Der sukzessive Prozess der „Entheldung“ in der modernen und nachmodernen Prosa wird in Schwere Knochen auf die Spitze getrieben. Von Anfang an erfahren wir Wesentliches durch den viel-, aber offenbar nicht allwissenden Erzähler (und hier wäre auch keine andere Erzählhaltung plausibler, denn als Legendenerzähler muss er zwar den Überblick haben, darf aber nicht zu viel verraten), der uns in die meist fragwürdigen Eigenschaften, Zuschreibungen und Beweggründe seiner Figuren einführt, die sich mit fortschreitender Romanhandlung allerdings kaum noch entwickeln, sondern eher beständig affirmiert werden. So etwa Krutzler, dessen Leerstellen im emotionalen Bereich immer wieder durch regloses Sitzen in seinem tickenden Uhrenkabinett illustriert werden oder durch seine höflich ausgedrückt doch sehr ambivalente Beziehung zu Musch, seiner großen Liebe, die sich von Anfang bis Ende durch den Roman zieht. So Sikora, der sich stets unglücklich in Frauen verliebt, die aus unterschiedlichen Gründen unerreichbar sind oder gar nicht wirklich existieren, obwohl oder gerade weil er als Bordellbetreiber gewissermaßen an der Quelle sitzt. Wessely sagt von ihm, für „den Sikora sei die Liebe immer nur Sehnsucht geblieben“. Alle tragen ihre Wunden, vom Autor mitunter recht theatralisch, aber wirkungsvoll ausgestellt, wenn etwa Krutzler bemerkt: „Wir sind doch alle beschädigt. Aber genau das macht uns besonders.“

„Die Anekdoten wurden ausgespielt wie Karten“, heißt es an einer Stelle, als sich die vier Erdberger Speditionisten nach ihrer KZ-Zeit wieder zusammenfinden, und so mag es der Leserschaft auch mit Schalkos anekdotenhaften Mosaiksteinchen gehen, aus denen sich der Roman zu einem guten Teil zusammensetzt. Und man muss zugestehen, dass der Autor dabei etliche Stiche macht: die Story etwa, in der er den Geschlechtsverkehr des Praschak mit einer Ringerin beschreibt, deren Vulva derart muskulös ist, dass sie damit Gegenstände wie Geschosse durch den Raum katapultieren kann, und was sich aus dieser Kunst dann für ein kapitales kopulatives Missgeschick entwickelt, entfacht nicht nur bei Liebhabern von Altherrenwitzen Heiterkeitsstürme. Die Gräuel der KZ-Zeit wirken dagegen scharf kontrastierend, wenn Schalko sie gänzlich unlarmoyant, ja geradezu kaltschnäuzig und mit viel recherchiertem Hintergrundwissen präsentiert, und die Leserschaft mag sich selbst fragen, weshalb es ihr so ohne weiteres möglich ist, die zahlreichen aberwitzigen Begebenheiten der Nachkriegszeit dann wieder mit einem wenn auch rabenschwarz gefärbten Augenzwinkern zu goutieren.

Schwere Knochen.
Roman.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018.
576 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-462-05096-7.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 16.04.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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