#Roman

Schuhe für Ruth

Irene Prugger

// Rezension von Silvia Sand

Nach „Nackte Helden und andere Geschichten von Frauen“ (2003) und „Frauen im Schlafrock“ (2005) hat die 1959 geborene Tirolerin Irene Prugger mit Schuhe für Ruth wieder einen ihrer bestsellerwürdigen Romane geschrieben. Frauen stehen bei ihr im Mittelpunkt. Für Klischees zu realistisch und zu klug, handelt es sich vielmehr um Menschen aus Fleisch und Blut, die sowohl auf der Verlierer- als auch auf der Gewinnerseite des Lebens zu finden sind.

Auch Ruth ist in ihrer Mischung aus Verzagtheit und Mut eine überaus lebensnahe Frau. Wie ändere ich mein Leben oder wie komme ich an einen Mann? – das sind die Hauptfragen von Ruth und ihrer Freundin Gabriele zu Beginn. Wie entkommt man einem sozialen Milieu? – ist die Frage im Laufe der Geschichte. Die Bibliothekarin Ruth findet eine Notiz in einem der entlehnten Bücher, die zum Schlüsselsatz wird: „Statt Armut als Konsequenz ökonomischer Ursachen anzusehen, dominiert nun in der aufgeklärten westlichen Welt jene Denkschule, die Armut als Konsequenz moralischen Fehlverhaltens sieht.“ (S. 99)

Selber schuld, sagen oder denken wohlmeinende Sozialarbeiterinnen ebenso wie Freundinnen und Eltern, dass Ruth schwanger sitzen gelassen worden ist, und sprechen ihr jedes eigenverantwortliche Denken und Handeln ab. Inzwischen ist Ruth eine übergewichtige Alleinerzieherin eines gemütlichen und nicht minder übergewichtigen Zwillingspärchens, die viel Zeit vor dem Fernsehgerät verbringt, wo ihr in Reality-Shows das eigene Leben vorgeführt wird: „Auf dem Sofa saß eine dicke Frau mit dicken Kindern und erzählte von ihren vergeblichen Bemühungen abzunehmen. Sofadecke und Vorhänge waren identisch mit denen in Ruths Wohnung. Dieselben Muster auch bei den Lebensumständen: Alleinerzieherin, untere Einkommensschicht, sozialhilfeabhängig.“ (S. 63) Obwohl sie gesellschaftliche Zwänge und Muster durchschaut – wie jene am Klassenelternabend, als es um finanzielle Unterstützung für bedürftige Familien geht – ist Ruth unfähig, sich alleine aus ihrer sozialen Pattstellung zu befreien. Erst die Betreuerin, die ihr vom Sozialamt vorgesetzt wird, bringt buchstäblich Bewegung in die festgefahrene Situation. Nadine, eine jung-sportlich-dynamische Vitaltrainerin, scheucht die kleine Familie aus ihrer Lethargie auf. Abnehmen heißt die Devise und so skeptisch Ruth das Unternehmen verfolgt, so erfolgreich absolviert die ewig fröhliche Nadine ihren Plan und für Ruth entsteht der schon lange dringend benötigte Freiraum.

Die große Wende tritt mit den so genannten „Paradiesvögeln“ ein: „Sommersandalen aus silbernem Leder mit einem Besatz aus schimmernden Glitzersteinchen. Die schmalen Stöckel waren gerade noch straßentauglich und nicht für das mühsame Auf und Ab des Alltags gedacht, sondern wie geschaffen für leichtsinnige kleine Fehltritte.“ (S. 83) Ruth nimmt ab, ihr Leben bekommt Schwung, sie geht aus, lernt Mario kennen, wagt sich in eine Beziehung, zerstreitet sich mit Gabriele und ehe sie es sich versieht, gerät das neue Glück auch schon ins Wanken. Ist Mario ein Betrüger? „Das Glück hat einen in ungeahnte Höhen katapultiert, aber auf dem Gipfel ist die Luft sehr dünn. Aus reinem Selbstschutz ist man bereit, freiwillig den Abstieg anzutreten, um zumindest auf die Ebene der Gewohnheit zu gelangen, wo das Leben weniger aufregend ist und sich der Herzschlag beruhigt.“ (S. 183)

Während Irene Prugger die Geschichte um Ruth zu einem Happy End führt, erinnert man sich an Marlene Streeruwitz‘ ersten Roman „Verführungen. 3. Folge. Frauenjahre“ (1996). Ihr Figureninventar ist ident mit jenem von Prugger: Da hält sich die Hauptfigur Helene, die wie Ruth vom Vater ihrer Kinder verlassen wurde, der ebenfalls keine Alimente zahlt, finanziell nur mühsam über Wasser. Die exaltierte Freundin Püppi ist wie die trockene Gabriele nicht unbedingt eine Stütze. Der Liebhaber und Musiker Henryk erfüllt aber im Gegensatz zum Bauarbeiter Mario Helenes Sehnsüchte und Bedürfnisse nicht. Streeruwitz‘ spröder Roman folgt der Bachmann’schen Tradition, in der die männliche Welt schuldhaft ist. Nicht nur das gesellschaftliche Niveau der Figuren, auch der literarische Anspruch liegt über jenem von Pruggers Roman. Das Motiv der alleinerziehenden Frau jedoch, die wie einzementiert in Abhängigkeiten existiert und weder Zeit, Geld noch Energie hat, nach eigenen Wünschen zu leben, macht den Frauen- eher zu einer neuen Art von Familienroman. Irene Prugger gibt den Kindern so viel Platz im Geschehen wie kaum andere AutorInnen. Während Kinder bei Streeruwitz eher gedanklich vorhanden sind, mischen sie sich bei Prugger vehement ins Geschehen ein. Genau wie im realen Leben kann die Zukunft des neuen Paares nur zusammen mit den Kindern funktionieren.

Dass Ruth sich auf gestohlenen Schuhen davon macht, ist vielleicht ein Symbol dafür, dass man sich das Glück manchmal stehlen muss oder auch dass Verlierer das Recht haben, sich am Überfluss unserer Konsumgesellschaft zu beteiligen. Mit etwas Starthilfe entwickelt Ruth genügend Dynamik, um auf die Gewinnseite des Lebens zu rutschen. Mag sein, dass es sich hier um eine Romanze handelt, dem optimistischen Denken in leichter und doch intelligenter Lektüre sollten jedoch keine Grenzen gesetzt sein.

Irene Prugger Schuhe für Ruth
Roman.
Innsbruck, Bozen, Wien: Skarabäus, 2008.
216 S.; geb.
ISBN 978-3-7082-3234-8.

Rezension vom 07.04.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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