#Lyrik

Schreibzimmer

E. A. Richter

// Rezension von Alfred Warnes

Gute Gedichte provozieren immer erneut die Frage: Was also ist Lyrik, hier und jetzt, im Augenblick des Gedichts? Gedichte, wenn sie gut sind, entwickeln ein Eigensein, das Zuordnungsgewohnheiten sprengt, ästhetische Gewissheiten entwertet.

Die 100 Gedichte in E. A. Richters neuem Band Schreibzimmer sind solche Eigenbrötler: Sie sind ziemlich immun gegen das traditionelle Schmeichelidiom der Lyrik; kommen mit einem prosanahen Duktus zu ihrer lyrischen Qualität; beweisen, dass es auch eine poetische Schönheit des Begrifflichen gibt; Richters Gedichte sind meist nominal geballte, verbarme Intensiväußerungen.

„Mr. Indecision [in dem gleichnamigen Gedicht] liebt es, auf Parkbäumen / solipsistische Ironieschleifen / aufzuzeichnen, mit dem Argument / der Gefahrlosigkeit“, ein begrifflich dominierter Prosasatz, der seine Lyrizität erst als Teil des Gedichtganzen zeigt; auch strenge Fremdwörter können eine spezifische Melodie entwickeln und taugen mitunter fast zu Märchensprache: Immer wieder taucht (in Besuch) eine kleine Frau auf, direkt aus dem Boden, eine kleine Märchenfee, macht aus Wasser Wein oder Tee, „dreht sich im Kreis, drückt sich aus“, versprüht Tee oder Farbe oder Nebel und am Schluss „klärt [sie] ihre fluide Emergenz“, Fremdwörter als Klangkörper; „ihr Kleid ist patschnass“, alle Sprachebenen beweisen ihre Lyrikeignung.

Richter hat für jedes Phänomen einen Haufen Gedanken und Empfindungen, sie kolonialisieren den Gegenstand/das Thema, in einer illusionslosen Einlässlichkeit, die durchaus zu Empathie führen kann („weil ich heiß bin von […] denen in meinem Blick“, A Roma); für alle Gedanken/Empfindungen hat er starke, eigenwillige Worte ohne Koketterie, die in jedes Phänomen die Furchen seiner Problematik graben. Leben ist ein Problem, Leben mit sich und mit anderen, Liebe ist ein Problem. Richter ist eine Art Intensivimpressionist, dessen Blick die Schale zum Kern aufkratzt; und wir wissen: der Kern der Dinge ist das Ich des Betrachters. Begriffe als Bohrer, in den Tiefenschichten der Phänomene/des Bewusstseins reibt sichs, entzündet sichs, verdichtet sichs zu poetischen Geräuschen.

Was ist Lyrik, hier und jetzt? Oft einfach geballtes Sprechen, das gerne die konzentrierte Schlagkraft abstrakter Hauptwörter nützt; komprimierte Ganzheiten, auf eine bestechend natürliche, geradezu unauffällige Weise in Zeilen und Strophen gebrochen.

Es gibt nur ein Gedicht in dem Band, in dem Richter Geballtheit, Begrifflichkeit, Maulwurfstätigkeit sein lässt, das Langgedicht Hier fuhr ich weg, über 6 Seiten, 37 vierzeilige Strophen: die erzählende Mitteilung eines bedeutungsflachen Alltagsausschnitts, vielleicht der Versuch, die rein erzählende Form und ihre ausführliche Gelassenheit für die Lyrik auszuprobieren. Ein schönes Gedicht, überhaupt für Leser, die die Ruhe jenseits von Prätention und Bedeutsamkeit lieben.
Es gibt noch etwas, das als literarische Qualität dieser Gedichte gelten darf: Sie teilen Erstaunliches mit.

Staunen macht dabei weniger, was die Gedichte an Außen- oder Innenwelt ansprechen – lebenssteuernde Eindrücke aus der Kindheit, das Sohnsein, das den Vater mitbeschreibt; Reisebilder aus Paris oder Rom, gleichermaßen impressionistisch wie imaginär, mit eher dezentem Ich-Gehalt; Porträts mit erstaunlich konsequenter Ich-Rücknahme (Müßiggänger!); Schreibreaktionen auf (musikalische) Hörerlebnisse; eine große Zahl von Liebes- und Beziehungsknäuel aus der Biographie des Erwachsenen („Ich bin ein Fremder / in diesem Bett und sammle Beweise / dafür, dass Scham nicht nötig ist“, Das Bett, „Liebe: ein Totschlagargument, / schon wenn du in der Tür stehst“, Konkordanzflammen); die eigene Anatomie; der Autor in seinem Schreibzimmer, nachts, am Computer, der auch  Musenfunktion hat; der Doppelgänger und seine überraschenden Beiträge zur Ich-Wahrnehmung – nein, das Erstaunliche kommt weniger aus der bunten weiten Welt als aus der Aufgabe von Realität, Kohärenz, Stringenz. Realität, Kohärenz, Stringenz können nicht wirklich überraschen. Bob Dylan hat viele Liedtexte geschrieben, in denen der Zusammenhalt einer Geschichte, die Folgerichtigkeit einer Absicht ausgesetzt werden zugunsten „freier“ Sätze, eingefangen von und gereiht nur nach dem unvermeidlichen Reim; erst im Ganzen stellt sich der Zusammenhang eines Befindens, einer Laune, einer Weltsicht her. E. A. Richter sitzt am Computer, sieht etwas, z. B. ein rotes Band über der Lampe, liefert sich planlos dem Gesehenen aus – und schon beginnt ein Gedicht. Entlassen aus funktionalem Dienst wuchern Vorstellungen zum Ich, und Worte wuchern zu Lyrik: „Hing etwa ein Band / mir tatsächlich zwischen den Augen? Verband es geheim Ein- und Ausgänge? / Gab es eine Hauteruption, sich sträubende Haare? Hingen künftige // Knochen in der Luft? Baute sich eine Kollision mit Erinnerungen auf, / in denen es Treppenstürze nur so hagelte? Ich, unten am kalten Beton, / flach, wie vom Blitz getroffen, neben den Heizungsrippen, blieb liegen, / voller Striemen, Schrammen, Blutergüsse, als wären alle meine Geliebten / über mich hergefallen, mich, den Ripper, nun überall fleischwund“. Zum Schluss wird das rote Band eine Lichtmembran sein, „die mit Lebenswut begeistert“ (Das Rote Band). Vor allem gegen Ende des Bandes gibt Richter vermehrt sein Reden frei; und man kann sicher sein, dass freigelassene, nicht intentionale  Sprache/Vorstellungen sich binnen Kurzem auf ihren Sprecher stürzen, ihn verlässlicher repräsentieren als alle Vorhaben. Richters freigesetztes Reden birgt prinzipiell und tendenziell das Unerwartete; ohne Prätention bleibt ungewiss, was in der nächsten Zeile passiert, wohin die Sprache den Leser führt und was sie mit ihrem Autor macht. Vor Beliebigkeit ist Richters Sprache geschützt, insofern sie auch (oder gerade) ohne Prätention mit allen Fasern am Sprecher hängt. Wer kann schon dafür, was er denkt? Was er schreibt? Diese Unschuld, wenn man sie sich zu erhalten weiß, ist ein schlechter Boden für Moral und ein guter für Poesie.

In einigen Texten wird auch der Sprache selbst die Führung des Gedichts überlassen: assonantisch darf sie Dinge ansteuern, die dann zum Ich weiterphantasiert werden. Sie erlaubt sich Behauptungen wie diese: „Es gibt keinen Schlaf ohne Schaf, kein Schaf ohne Schal, / keinen Schal ohne schlaffen Schlag.“ Das ist weniger Nonsense als nächtliche Traumperseveration, wenn die Sprache noch selbstreferenziell und ohne Zügel redet; als der Sprecher aufwacht, „spricht keiner mehr von Schaf oder Schlaf“ (Schlaf oder Schaf). Die Suche nach inhaltlicher Kohärenz ist bei Weitem nicht die wichtigste oder gar die einzige Methode, Gedichte zu verstehen.

Eine ganze Reihe von Gedichten entsteht aus dieser Halbschlafsituation: Von da grüßt der Doppelgänger, man reicht ihm die Hand, den Schenkelduft oder die grüne Zunge (Schatten); da sind die Gedanken noch nicht geordnet, die Absichten noch nicht gerichtet, die Worte noch nicht Sklaven der Dinge; der Halbtraum intensiviert die Wahrnehmung, weitet und belebt das Wahrgenommene zu einer Welt, die zwar nicht wirklich, aber wahr ist (insofern Vorstellungen und Worte noch nicht von der Realität beansprucht werden, sondern noch ganz dem Ich gehören). In Honigseim quillt der Honig aus der Holzwand, weil sie Honigfarbe hat, zieht Bienen ins Gedicht, rinnt aufs Bett, in dem die britische Künstlerin Tracey Emin liegt, macht ihr ein Honiggesicht und hinterlässt dem Erwachenden „neue Honig-Wörter, / ohne auf eine Lösung zu stoßen für Süße Sünde Sühne“. Süße Wörter, die noch keine Erklärung für sich haben, ein Bewusstsein, das sich noch nicht geniert, und ein Gedicht voll Vertrauen in den poetischen Mehrwert des Traums.

Schreibzimmer.
Gedichte.
Wien: Edition Korrespondenzen, 2012.
160 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3902113948.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 01.07.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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