Dass er sich damit in den auserwählten und teils fast intimen Kreis von Krebskranken begeben hat, schockiert ihn umso mehr, als er an diese Möglichkeit offensichtlich gar nicht gedacht hat. Es ist, als wenn er – mit seiner juckenden, riesengrossen Gesichtsmitte – auf der Strasse auf eine Gruppe Aussätziger träfe, die ihn ohne Umstände fraglos als Ihresgleichen aufnehmen würde: „Im Augenblick wächst mir das alles über den Kopf. Ich wollte bloss wissen, was mit meiner verdammten Nase los sein könnte, und jetzt bin ich auf einmal in einer todernsten Geschichte gelandet. Nasenkrebs! Da bin ich zu jung dafür!“ (S. 7) Krebs. Wer beschäftigt sich schon gern aus freien Stücken mit diesem Thema. Das Heimtückische ist ja, dass es wirklich jeden erwischen kann; niemand ist gefeit, weder der Vegetarier noch der Nichtraucher oder Nichttrinker, weder der Workaholic noch der Nichtstuer.
Walter Müller macht es dem Leser nicht sonderlich einfach mit seinem Roman. Warum sollte man ein Buch lesen, in dem es ausschliesslich um Kranke geht und dessen Ende so gut wie sicher ein schlechtes sein wird. Und doch bleibt man dran. Der Einstieg kostet zwar eine gewisse überwindung, aber dann siegt das, was man Neugier, in manchnerlei Hinsicht auch Voyeurismus nennen könnte.
Auch wenn das Buch in der Form des Chattens geschrieben ist, es somit keine durchgehende Handlung gibt, existiert doch ein roter Faden, der sich durch alle Postings zieht. Zwar kommen immer wieder Neu- und Quereinsteiger dazu – die Freiheit, die dem Autor auf diese Weise geboten wird, ist der grosse Vorteil des Mediums – nichtsdestotrotz gibt es Protagonisten, deren Verdienst es ist, all den heterogenen Einträgen einen Zusammenhalt zu geben.
Im Zentrum des Romans, wenn man den Text denn so nennen kann, steht die Geschichte der Weinrauch-Brüder, Paul I und Paul II, der zwei titelgebenden „schrägen Vögel“ (S. 173). Sie sind voneinander getrennt aufgewachsen, haben beide denselben Vater, aber verschiedene Mütter. Nach dem Tod der Mutter des Älteren macht sich besagter Paul I auf die Suche nach seinem jüngeren Bruder. Und findet ihn. Nur dass Paul II gerade zu diesem Zeitpunkt erfährt, dass er an einem Zungengrundtumor leidet. Obwohl er nicht wirklich zu den „Nasenbären“ gehört, postet Paul I in diesem Forum, wo er schnell Freunde und Verständnis findet. Wir werden Zeugen des Versuchs einer Annäherung, eines Aufholens von nichterlebten gemeinsamen Erinnerungen – im Angesicht des Todes.
Der Autor lässt noch viele andere schräge Vögel zu Wort kommen, rollt skurrile Szenarien aus, macht uns bekannt mit Silvie, deren „Ablaufdatum“ naht, mit Willi, dem trinkfreudigen Kulturkritiker und seinem Berufskollegen, dem Kulturredakteur Thomas, mit Edgar, dem Kopf einer Theatergruppe, mit Petra, der verzweifelten Tochter, die ihren Vater verloren hat, mit Eugen und seiner unausgesprochenen Zuneigung für seine Lieblingskellnerin, mit dem Trauerredner Martin, mit dem Gedichte schreibenden Walter, dem Clown Friedrich (Kuddelmuddel) und vielen anderen mehr. In Fällen von „Grenzüberschreitungen“ springt die Moderatorin ein, sie heisst Birgit und ist selbst ein Mitglied dieser Familie der Betroffenen.
Allesamt sind sie ein bunter Haufen von Menschen, die das Schicksal in diesem Forum zusammengeworfen hat. Sie schreiben über ihre Sehnsüchte, Ängste, über ihre Leidenschaften und Abgründe. Ob es nun das manische Sammeln von Todesanzeigen ist oder der Verlust von Fotos der Mutter am Totenbett, dieses Forum verleiht ihnen die Freiheit und die Möglichkeit, die Bürde mit anderen zu teilen.
Auch wenn das Thema des Romans eine „bittere Pille“ ist, Walter Müller schafft es dennoch, den Leser so weit in den Sog der Geschichten zu ziehen, dass er sich mit den einzelnen Figuren solidarisiert, so absurd das manchmal sein mag. Darüber hinaus sensibilisiert der Text in gewisser Weise für den Umgang mit der Krankheit Krebs und ihren Opfern.