#Roman
#Debüt

Schnittbild

Anna Felnhofer

// Rezension von Florian Dietmaier

„Weder-noch“ nennt Roland Barthes in Mythen des Alltags „jene mythologische Figur, die darin besteht, zwei Dinge als Gegensatz aufzustellen, beide gegeneinander abzuwägen und sie dann beide zu verwerfen“. Dieses Abwägen ist eine Flucht vor dem unerträglichen Realen, die aber in einer Sackgasse enden muss. Denn ein Gleichgewicht, zum Beispiel in der Astrologie, wo Glück und Pech in die Waagschalen gelegt werden, „läßt die Werte, das Leben, das Schicksal usw. erstarren.“

In Anna Felnhofers fantastischem Debüt Schnittbild wird der Aushilfslehrer Fabjan auf den Stufen, die zur Praxis seiner Psychotherapeutin führen, mit einem Weder-Noch konfrontiert. An der Wand bemerkt er Yves Kleins Fotografie Saut dans le vide, auf der ein Mann zu sehen ist, der aus einem Fenster ragt und in der Luft hängt. „Und so, in dieser Lage, ist alles möglich: der Fall wie auch der Flug.“
Fabjan kennt das Bild seit seiner Kindheit. Sein Vater hat es, auf seinen Wunsch, über seinem Bett aufgehängt. Er weiß nicht mehr, warum er Saut dans le vide gewählt hat, nur dass es ihn jahrelang begleitet hat, „das Weder-Noch, das Unentschieden, der Angelpunkt seiner Hoffnung.“ Er hat sich knapp dreißig Jahre später noch immer nicht entschieden. Das Foto wurde nie ein Entweder-Oder für ihn, entweder Flug oder Tod, sondern blieb ein Weder-Noch, weder Flug noch Tod. Und so führt er ein unglückliches Leben mit dem erinnerten Blick aus dem Kinderzimmer, in dem Saut dans le vide hing, und der „Sicherheit, dass es den Hof gab und seine gleichbleibende Distanz zum sechsten Stock.“
Diese kurze Szene, erzählt auf zwei Seiten, zeigt im Kleinen Felnhofers konzentrierte Erzählweise. Fabjan erinnert sich an einem späteren Tag an jenen, an dem ihm das Foto im Treppenhaus zum ersten Mal aufgefallen ist. Eingebettet in diese Erinnerung, erinnert er sich an die Geschichte des Fotos und an seinen Vater, der damals 34 und damit genau so alt war wie Yves Klein bei seinem Tod. Fabjan muss bei diesem Zufall „daran denken, dass manchmal die Dinge auf der Welt auf eine rätselhafte Weise miteinander verknüpft sind.“
Felnhofer nennt Schnittbild passend einen ‚Episodenroman‘: Zeitlich kurze Abschnitte aus den Leben von vier Menschen werden in kurzen, verschachtelten Abschnitten erzählt. Die vier Episoden können dabei für sich selbst stehen. Die Figuren der ersten drei sind jedoch neben ihren Versuchen der Bewältigung vergangener Traumata und Verknüpfungen, wie Fabjan sie mit Saut dans le vide erlebt, auch über die Protagonistin der vierten Episode verbunden: Sie ist bzw. war ihre Therapeutin.
Die Probleme der Figuren sind vielgestaltig:
Seit Oktober 2016 ist Fabjan in Behandlung. Eine ehemalige Schülerin, mit der er eine Beziehung hatte, hat ihm die Therapeutin empfohlen. Zum Teil konnte er sich öffnen, vieles behält er aber noch für sich. Unter anderem die Verknüpfung mit Saut dans le vide.
Vom Dezember 1980 bis zum März 1981 ist die vierzehnjährige Rahel in der Kinderpsychiatrie eines Wiener Krankenhauses in Behandlung, nachdem sie beinah von einem Zug erfasst worden wäre. Sie hat der Therapeutin ihre Schnittwunden an den Armen gezeigt und fürchtet, sich damit ausgeliefert, zu viel von sich verraten zu haben.
Im August 2004 nimmt der Wissenschaftler Erik am Forum Alpbach teil, wo er der Therapeutin wieder begegnet. Seine Frau ist vor sieben Jahren spurlos verschwunden. Er war deshalb in Behandlung, hat sie aber nach einem Jahr abgebrochen, weil er der Wahrheit, also dem Schicksal seiner Frau, damit nicht näher gekommen war.
Und die Therapeutin selbst kann im Herbst 2016 seit fünf Nächten nicht mehr schlafen. Eine ehemalige Klientin, bei der sie fürchtet, sie „zu früh aufgegeben“ zu haben, hat sie aufgesucht und ihr mitgeteilt, dass sie ein Buch über sie geschrieben habe.

Klient/inn/en, die sich nicht öffnen wollen oder können und eine Therapeutin, die zweifelt, ob sie ihren Klient/inn/en helfen kann. Beim Lesen dieser Episoden fragt man sich unweigerlich, was es zur Heilung psychischer Störungen braucht, wann jemand als geheilt gilt, und was passiert, wenn Therapeut/inn/en selbst Hilfe brauchen.
Diese Fragen werden im Text zwar gestellt, doch Felnhofer, die als klinische Psychologin an der MedUni Wien arbeitet und dort unter anderem zur virtuellen Realität forscht, nimmt vom „Vorrecht der Belletristik“ Gebrauch, wie sie die Therapeutin einmal denken lässt, und erzählt eine „Geschichte ohne Ende.“ Statt einfache Antworten auf diese komplexen Fragen zu geben, zeigt Felnhofer ihre Protagonist/inn/en in einem Weder-Noch erstarrt, diesem „empfindlichen Moment der Balance, diesem Dazwischen“, wie Rahel es ausdrückt. Die Klient/inn/en und die Therapeutin balancieren ihr Ich in einem prekären Gleichgewicht, um weder zu fallen noch zu fliegen, um bei der Bildsprache von Saut dans le vide zu bleiben.
Sie verstehen aber, dass das ein Problem ist, ahnen es zumindest. Besonders bei anderen. Fabjan erkannte etwa am Beispiel seiner Exfreundin, „dass das, was wir in unserer Mitte für unser Ich halten, unser ganzer Zusammenhalt, lediglich die zufällige Wirkung eines mühselig aufrechtgehaltenen, unfallartig entstandenen Gleichgewichts ist.“ Und an der Therapeutin bemerkt er „ihre Müdigkeit, ihre Gereiztheit. Seit Wochen beobachtet er ein Zunehmen dieser Zeichen an ihr.“ Auf sich selbst wagt er diese Erkenntnis aber noch nicht anzuwenden.
So meint er in der zweiten Einheit, es gäbe nichts über ihn zu erzählen. „Jeder Mensch“, erwidert die Therapeutin, „habe eine Geschichte.“ Später, heißt es, wird Fabjan erkennen, dass die Therapeutin versucht, diese Geschichte unter anderem durch Fragen herauszufinden, um ihre Klient/inn/en „davon zu überzeugen, dass es Zusammenhänge gibt, die bedeutsam sind.“ In der zweiten Einheit legt Fabjan immerhin den Grundstein für seine Geschichte und erzählt „beliebige Episoden, bedeutungsvoll allein dadurch, dass er sie entlang ihrer Konturen aus dem Vergessen herauslöst und sie, für Momente, scharfstellt, während ringsum alles verschwimmt.“ Beispielsweise der Blick in den Innenhof aus Fabjans Kinderzimmer im sechsten Stock. Ist dieses Herauslösen für Momente noch ein Weder-Noch?
Oder ist er etwas anderes, ein Numen? Diesen Begriff verwendet Barthes in Mythen des Alltags und Die helle Kammer. In Kammer definiert er ihn als eine Geste oder Pose in einem Gemälde, die „genau in dem Moment ihrer Bewegung festgehalten wurde, in dem das normale Auge sie nicht fixieren kann“. Die Beispiele, die er in Kammer gibt, unter anderem das Foto Drug store Publicis von Francis Apesteguy, das eine Frau zeigt, die aus einem brennenden Haus springt und von der Menge aufgefangen werden wird, sowie die Definition des Begriffs zitiert Felnhofer wörtlich. (Überhaupt gibt es viele solcher intertextuellen Verknüpfungen.)
Ist das Numen das Gegenstück zum Weder-Noch? Beide bedeuten ein Erstarren, doch das Numen zeigt etwas, dass bewusst nicht sichtbar (gemacht worden) wäre. Und auch etwas, das das Gleichgewicht stören und damit eine Heilung bedeuten könnte?
Die Definition des Numen erinnert jedenfalls an das titelgebende Schnittbild, wie Fabjan es gleich zu Beginn seiner Episode formuliert. Er ist Amateurfotograf und fotografiert mit seiner Leica M Monochrom, Typ 246, eine Pfütze. Vom Fenster der Wohnung aus, die er mit seiner Exfreundin geteilt hat. Das statische Motiv wählt er, weil die Leica eine „Feindin der Bewegung“ ist. Um den Fokus auszurichten und das mittige Schnittbild mit dem Sucherbild übereinanderzulegen muss man „den Winkel dauernd ändern, die Position ständig anpassen […]. Und selbst dann gelingt es nicht immer, es bleibt stets eine Unschärfe.“ In in dieser unscharf machenden Bewegung zwischen Schnitt- und Sucherbild könnte sich aber ein Numen verbergen. Wie die Therapeutin zu Erik sagt, lässt sich ein „Zeichen […] erst im Nachhinein deuten“.

Verknüpft die Therapeutin die Geschichten ihrer Klient/inn/en also, indem sie ihnen hilft, die Numen in den Bildern ihrer Vergangenheit zu erkennen und das Weder-Noch im besten Fall zu Gunsten der positiven, optimistischen Waagschale zu gewichten?
Auch diese Frage beantwortet der Text nicht direkt. Doch gerade das ist die große Stärke von Schnittbild. Anna Felnhofer ist mit ihrem Debüt ein Roman gelungen, der sich Zeit für seine Figuren nimmt, sie nicht zu einer einfachen Antwort zwingt, sondern ihnen Fragen stellt und sie erzählen lässt. Es lohnt sich zuzuhören.

Anna Felnhofer Schnittbild
Episodenroman.
Wien: Luftschacht, 2021.
336 S.; geb.
ISBN 978-3-903081-86-4.

Rezension vom 21.04.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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