#Sachbuch

Schneepart / Sprachgitter

Paul Celan

// Rezension von Iris Denneler

Für die einen ist es ein nationales Ehrengrab, für die anderen die Krönung philologischer Bemühungen – die Historisch-kritische Ausgabe. Sicher jedenfalls ist: kaum ein literaturwissenschaftliches Unternehmen ist mit solchem Prestige behaftet wie dieses, kaum eines in unserer eigentlich doch wohlfeilen Branche so teuer, und keines mit so viel Aufmerksamkeit, Kritik, aber auch mit dem Ruch vorhersehbaren Scheiterns behaftet wie das Großunternehmen HkA.

Denn, selbst diese Ausgaben sind keineswegs für die Ewigkeit geschaffen. Im Gegenteil. Ihre Halbwertzeit scheint sich in den letzten Jahrzehnten rapide verringert zu haben. Vorbei die Zeiten, in denen man sich auf Schweiß und Lorbeeren der Textsicherung ausruhen konnte. Mittlerweile ist es keine Seltenheit, daß, obwohl das eine Projekt noch nicht abgeschlossen ist, eine neue Ausgabe – mit neuer Besatzung, neuem Konzept, neuem Apparat und neuen Förderern – auf den Markt kommt.

So geschehen bei Georg Trakl, bei Hölderlin, bei Franz Kafka und auch bei Paul Celan. Man darf rätseln, wieso Suhrkamp mit der Tübinger Ausgabe des Lyrikers, die der Bonner Arbeitsgruppe folgte, sich 1996 diese Konkurrenz im eigenen Hause schuf – vielleicht schreiben die HkAs ja doch nicht nur rote Zahlen? Weit wichtiger als der finanzielle Aspekt aber ist die Frage nach dem Gewinn, die das Konkurrenzunternehmen bringt. Bereits vor Jahren hat Gunter Martens über Sinn und Unsinn einer textgenetischen Leseausgabe der Dichtungen Paul Celans nachgedacht („Kompromisse über Kompromisse“. In: Textkritische Beiträge 3, 1997, S. 73-86), beide Ausgaben gegeneinandergestellt und ihre Vorzüge, aber auch ihre Schwachpunkte aufgezeigt. Seine Argumente brauchen deshalb hier nicht noch einmal wiederholt zu werden.

Ob das Ziel, „ein Höchstmaß an Genauigkeit in der diplomatischen Wiedergabe der Textzeugen und zugleich eine anschauliche Darstellung der textgenetischen Zusammenhänge“ (Martens, S. 82), mit der neuen Ausgabe erreicht wurde, läßt sich wohl dann am besten überprüfen, wenn, wie in diesem Herbst, beide Teams gleichzeitig ihre neuen Bände präsentieren. Celans Gedichtband „Sprachgitter“, entstanden Ende der fünfziger Jahre, bringt, zweibändig, die Bonner Arbeitsstelle heraus; „Schneepart“ – seinen erstmals 1971 posthum erschienenen Gedichtband – publizieren (mit Vorstufen, Textgenese und Reinschrift) die Tübinger Herausgeber.

Zunächst das Gemeinsame: man will heute nicht mehr nur, wie in den Anfängen der modernen Editionsphilologie, durch Historisch-kritische Ausgaben Texte sichern. Das Ziel der gegenwärtigen Editionstechnik ist es, einen Einblick in die Werkstatt der Dichter zu verschaffen, die Genese der Texte sichtbar zu machen; zumal gerade bei modernen Autoren dieser Produktionsprozeß selbst mitreflektiert, dokumentiert und als wesentlicher Teil des Werks verstanden wird. Man steht schließlich unter dem Gebot der Authentizität. In unserem speziellen Fall heißt das, man muß zunächst über die Arbeitsweise Celans Bescheid wissen:

Celan arbeitete, das lassen Handschriften und Überlieferungsträger unzweifelhaft erkennen, nicht nur sukzessiv an einem Text, er bearbeitete verschiedene Stufen zur selben Zeit, entwarf selten lineare Fassungen, sondern war gleichzeitig mit Paralleltexten beschäftigt, die nicht eine unmittelbare Fortentwicklung darstellten, sondern eher als ein Ausprobieren, ein Ein- und Umkreisen verstanden werden dürfen. Dieser ‚unchronologischen‘ Produktionsweise scheint die Tübinger Ausgabe entgegenzukommen, die nicht wie ihre Vorgängerin in Stufen die Entwürfe präsentiert (die ja noch aus der organologischen Wachstumsidee resultieren, die man ohnehin verabschiedet hat), sondern in nebeneinander parallel lesbaren Stadien.

Allerdings hat diese Darstellungsweise ihre Grenzen: von bis zu fünfzehn Fassungen berichten die Tübinger, die es in den Blick zu bekommen gilt. Eine Doppelseite reicht aber gerade für vier Spalten aus. So sind schon aus platztechnischen Gründen Konzessionen nötig: Anmerkungen, Verbannung der Varianten in einen ‚lemmatisierten‘ Apparat, Ausnahmen, Auswahlen, Nachgetragenes. Schnell ist da der Innovationswert des neuen Projekts in Mitleidenschaft gezogen. Und im Ernst – ohne die ‚alte‘ Bonner HkA, ohne deren Vorarbeiten, das Ordnen, Siglieren, die Sicherung der Textbestände durch die Editoren Beda Allemann, Rolf Bücher, Axel Gelhaus, Stefan Reichert, Andreas Lohr-Jasperneite, Holger Gehle und Andreas Lohr wäre das neue Projekt nicht zu denken.

Das beste wird wohl sein, man partizipiert an den Vorteilen beider: nicht nur, was das Studium der Varianten und der Textgenese betrifft. Anregen lassen darf man sich darüber hinaus durch die schönen, dank Celans Handschrift gut lesbaren Faksimiles der Tübinger Ausgabe, durch den auch ästhetisch ansprechenden Druck, die gediegene Bindung, das schöne Papier der Bonner Bände, durch Spuren, die die Kommentatoren legten (wie der Nachweis einer Widmung von „Schneepart“ durch den nach der Drucklegung Dezember 2001 gerade noch rechtzeitig zugänglich gewordenen Nachlaß Ingeborg Bachmanns, in dem sich die Originalhandschrift zu Celans Zyklus findet und in ihm, am oberen rechten Rand des Gedichts „Weiß und Leicht“, der Eintrag: „Für Dich, Ingeborg, für Dich -;“). Es sind Bücher wie diese Historisch-kritischen Ausgaben, die eine entdeckende Beschäftigung mit Autoren und ein Lesevergnügen exquisiter Art garantieren; Belohnung für alle, die auf solch mühevoller Spurensuche Interesse und Durchhaltevermögen bewiesen.

Paul Celan Schneepart
Vorstufen, Textgenese, Reinschrift.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002.
250 S.; brosch.
ISBN 3-518-41316-3.

Paul Celan Sprachgitter
1. Abt. Lyrik und Prosa, Bd. 5.1/2.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002.
330 S.; geb.
ISBN 3-518-41329-5.

Rezension vom 10.09.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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