#Sachbuch

Schmäh als ästhetische Strategie der Wiener Avantgarden

Kurt Bartsch

// Rezension von Irene Suchy

Dada zum Vergnügen, so das Versprechen einer kurioserweise (bewusst gewählt?) zu Faschingsbeginn am 11. 11. 2015 bei Reclam erschienenen Publikation, die mit ihrer Text-und Bildauswahl die durch den Titel und das Photo von Hugo Ball als Lautpoesie rezitierendem „magischen Bischof“ destruierende Abbildung auf dem Umschlag geweckten Erwartungen durchaus erfüllt.

Herausgegeben wurde die Anthologie von Hermann Korte und Kalina Kupcynska, beide einschlägig durch Forschungsarbeiten zu avantgardistischer Literatur ausgewiesen. Hier wie auch im aus Anlass „100 Jahre Dada“ in der Zeitschrift „ART“ (Januar 2016), die im Titel Dadas Sieg feiert und auffordert: „Es lebe der Unsinn“, wird nachdrücklich deutlich, dass das Komische, der Witz, der Humor – subversives Lachen provozierend – als ein wesentliches Element der historischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts, speziell des Dadaismus angesehen werden können. Dies gilt dann gleichermaßen für die nach dem kulturellen Kahlschlag durch den Nationalsozialismus an diese Anschluss suchenden künstlerischen Bemühungen in den 1950er und 1960er Jahren. In Wien kommt – wie der Titel der vorliegenden, vier „Wiener Vorträge“ versammelnden Publikation suggeriert – dem „Schmäh als ästhetische[r] Strategie“ in Avantgardeanspruch erhebender Literatur, Musik, bildender Kunst und Architektur große Bedeutung zu. In der „Einleitung“ zum vorliegenden Band spricht ihm die Herausgeberin Irene Suchy, so gesehen nicht überraschend, für unterschiedliche avantgardistische Ansätze in den angesprochenen Kunstsparten zwischen den 1950er und 1970er Jahren eine „zentrale künstlerische Kraft“ (S. 16) zu.

Grundsätzlich stellt sich – der Herausgeberin und den einzelnen Beiträgern selbstverständlich durchaus bewusst (vgl. S. 15 u. ö.) – das Problem einer für alle künstlerischen „Auslotungen“ (S. 14) brauchbaren Definition von „Avantgarde“ beziehungsweise „avantgardistisch“. Allerdings: Avantgarde-Anspruch und definitorische Festlegungen schließen einander ohnehin von vornherein aus. Für die historischen Avantgarde-Bewegungen kann gelten, dass sie das traditionelle Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, und das heißt, kurz gesagt, den Autonomiestatus des Kunstwerks grundsätzlich in Frage gestellt haben. Mit ihrer Forderung nach Aufhebung der Kluft zwischen Lebenspraxis und Kunst durch deren Entsublimierung untrennbar verknüpft ist die Destruktion der Vorstellung vom auratischen organischen Kunstwerk, mithin auch die Tendenz zu „Grenzüberschreitungen“ (Kohoutek, S. 74) zwischen den Künsten, aber auch zwischen diversen Genres innerhalb der einzelnen Künste. Beispielhaft lenkt die Aufmerksamkeit gerade auf diesen Aspekt der Beitrag des von der Ausbildung und von seinen Tätigkeiten als Architekt, Kritiker, Forscher, Berater her selbst als Grenzüberschreiter fungierenden Rudolf Kohoutek unter dem Titel Weniger Humor, mehr Schmäh. Wiener Architektur-Avantgarden 1958-1973. Kritische Positionen gegenüber herkömmlicher Architektur werden spätestens seit den Seckauer Kunstgesprächen von 1958 unter anderen etwa von Hans Hollein artikuliert. Bei der Infragestellung von „Wahrnehmungsgewohnheiten“ (S. 79) kommen Ironie und eben der Wiener Schmäh ins Spiel, zum Beispiel bei Hollein in dessen Collagen mit Architekturskizzen. Kohoutek blickt nicht nur auf die – mit Franz Schuh gesprochen – „Sprengung“ von „Erlaubnisräumen“ (S. 77), auf „Entregelungen“ und deren Wienerische „Relativierungen“ durch den Schmäh (S. 75) in diversen mehr oder weniger unkonventionellen avantgardistischen Ansätzen bei Hans Hollein, Hermann Czech, Heinz Frank sowie den Gruppen Haus-Rucker-Co, Coop Himmelblau, Zünd-Up und Salz der Erde, sondern auch auf den intensiven Austausch von Künstlern an den von traditionellen Positionen aus gesehen unauratischen „Orte[n] der Vollversammlung der Wiener Avantgarde“, nämlich in Beisln und Kaffeehäusern (S. 76), sowie auf die Bedeutung des performativ Ereignishaften (Wiener Gruppe, Aktionismus – vgl. S. 76, 78) und des Witzes in den Texten von Friedrich Achleitner und Gerhard Rühm (vgl. S. 92) oder auch auf die Kontakte von Architekten zu avantgardistischen Literaten wie Hermann Schürrer und Reinhard Priessnitz (vgl. S. 109).

„Mut zur Grenzüberschreitung“ (S. 61) in den aktionistischen Performances von Peter Weibel, Ossi Wiener, Otto Mühl, Günter Brus u. a. im AudiMax der Uni Wien beobachtet auch der auf Avantgarden spezialisierte Kunsthistoriker Harald Krejci in seinem Beitrag Ironic Turn. Der Humor und der Wiener Schmäh in der bildenden Kunst nach 1968 und wie es dazu kam. Er verweist auf den Gironcoli-Schüler Franz West, der den „Schmäh“ der Aktionisten „als eine liebevoll-zynische, gnadenlos direkte und manchmal karikierende Haltung“ versteht (S. 62). Er wie auch andere Künstler, nicht nur Wiener – Krejci nennt neben Erwin Wurm u. a. Martin Kippenberger oder Christoph Schlingensief – sind von einem alle Avantgarden prägenden „performativen“ Impetus bestimmt. Krejci liefert nicht nur grenzüberschreitende Beobachtungen zu Dadaismus, Futurismus und Surrealismus mit ihrem ausgeprägten Hang zum Performativen (etwa Hugo Ball mit seiner Präsentation von Lautgedichten), sondern verweist auch auf den 1947 gegründeten Art Club und die Zeitschrift „Plan“, die wesentlich zur Surrealismus-Rezeption nach 1945 beitrugen, sowie auf die Bedeutung des Dadaismus für die Wiener Gruppe.

Vom Abdanken der Zwölfton-Herrschaft. Komponieren im post-faschistischen Wien als Schnittstelle zwischen Performance, Dadaismus und historischer Reflexion, so der bezeichnende Titel des Beitrags der vielseitigen Musikexpertin Irene Suchy. Einer ihrer Interessensschwerpunkte gilt dem Schaffen Otto M. Zykans, von dessen Polemischer Arie, integrierender Bestandteil nicht weniger Werke des Komponisten seit den 1960er Jahren, die Überlegungen Suchys ihren Ausgang nehmen. Die Polemische Arie gilt ihr als zentral für die Wiener Avantgarde nicht nur, sondern für die „Musik der Epoche“ (S. 39) insgesamt und als bewusster „Gegenentwurf“ zur etablierten Musik. Sie betont zudem die Wichtigkeit der Zusammenarbeit Zykans mit den beiden über „Heiterkeit“, die existentielle Bedeutung des Lachens und den strategischen Einsatz des Humors reflektierenden Komponisten Kurt Schwertsik und HK Gruber, ein Zusammenwirken, bei dem wiederum der performative Aspekt eine große Rolle spielt. Zykan (mit seiner Vorliebe für Kurt Schwitters) wie auch Schwertsik (etwa in seinem Hang zum Aleatorischen) lassen nicht nur Bezüge zum Dadaismus erkennen, sondern auch zur zeitgenössischen Literatur, zu H. C. Artmann, Friedrich Achleitner, Ernst Jandl. Zu nennen wäre wohl auch der hochmusikalische, bekanntlich die Grenzen zwischen Literatur und Musik, aber auch bildender Kunst immer wieder in seinen Arbeiten – übrigens auch theoretisch – auslotenden und überschreitenden Gerhard Rühm, wenn Suchy beobachtet, dass bei Zykan „Sprachmutationen […] aus der vordergründigen Sinnlosigkeit Anklänge an Wiener Dialekt-Ausdrücke“ suggerieren. Das erinnert sehr stark an Rühms eben diese Suggestion generierende „Imaginäre Dialektgedichte“.

Den „Professor für Grenzüberschreitungen“ (Hajo Schiff in „Die Tageszeitung“, Berlin, vom 20.1.1989) Gerhard Rühm und Ernst Jandl in den Mittelpunkt seiner Ausführungen über Schmäh, Witz, Humor und tiefere Bedeutung stellt der sich gerade auch nicht Grenzen unterwerfende, vielmehr für unterschiedliche wissenschaftliche und künstlerische, speziell auch musikalische Projekte, für Fußball-Kommentare im „Standard“ u. a. offene Literaturwissenschaftler Helmut Neundlinger. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist Jandls berühmtes „hummoooa“-Gedicht, das Neundlinger als „eine Art Partitur“ (S. 23) versteht und an dem er konstatiert, dass der Humor scheinbar „penetrant humorlos insistierend“ (S. 18), aber nicht ohne einen gehörigen Schuss Ironie eingefordert wird. Für Jandl bezeichnend ist die virtuose „Laut-Performance“ der spielerische, pointierend zuspitzende Umgang mit der Sprache, wobei Neundlinger einen „semantischen Mehrwert“ erkennt, „der sich weder in einen eindeutigen Inhalt rückübersetzen noch als rein formale Spielerei abtun lässt“ (S. 20). Der sogenannte „Wiener Schmäh“ dient bei Rühm und anderen den Anschluss an die Avantgarden suchenden Autoren wie H. C. Artmann oder Friedrich Achleitner nicht der Bedienung von Klischees wie dem vom goldenen Herzen, vielmehr der „Destruktion“ (S. 23) des in ihm Verdrängten. Nicht unwesentlich für Jandl ist der politische Aspekt, wie beispielsweise im viel zitierten und interpretierten Gedicht wien : heldenplatz, in dem der Autor den nationalsozialistischen Sprachduktus „gleichsam dadaistisch überhöht“ und solcherart unterlaufen wird. Hierin erkennt Neundlinger Ähnlichkeiten zu Charlie Chaplins The Great Dictator.

In der sprachspielerischen Ausrichtung und durch virtuose Performance ist Gerhard Rühm dem etwas älteren Ernst Jandl ebenso vergleichbar wie in der Provokation durch Unterlaufen von Klischees, insbesondere im Einsatz des Dialekts. Selten allerdings finden sich bei ihm direkte Bezüge auf Politisches, auf Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Weltkriegs, wenngleich er doch nicht so unpolitisch einzustufen ist, wie Neundlinger suggeriert. Man denke etwa an das „dokumentarische Sonett“ verluste in vietnam, das sich nicht in einem selbstzweckhaften Sprachspiel erschöpft, vielmehr scharfe Kritik an massenmedialer Manipulation und dem Zynismus des politischen Jonglierens mit Opferzahlen übt. Allerdings ist es schon richtig, in Rühm in erster Linie einen „mit allen Wassern der Hochkultur gewaschenen Bürgerschreck“ (S. 28) zu sehen, der mit provokativen Performances und sprachlichen Experimenten zu irritieren versucht.

Der Wert der vorliegenden Publikation liegt weniger in neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen über avantgardistische Tendenzen in verschiedenen Künsten im Wien der 1950er bis 1970er Jahre, als vielmehr darin, dass in eben diesen diversen künstlerischen „Auslotungen“ der strategische, Provokation evozierende Einsatz des „Wiener Schmähs“ verfolgt wird – ein Aspekt, der bislang nicht die ihm nun zugekommene Aufmerksamkeit gefunden hat – sowie in der Zusammenschau, die die Erkenntnis der Bedeutung des Performativen und des Überschreitens von Genregrenzen für alle avantgardistischen Künstler ermöglicht.

Irene Suchy Schmäh als ästhetische Strategie der Wiener Avantgarde
Sachbuch.
Mit Beiträgen von Rudolf Kohoutek, Harald Krejci, Helmut Neundlinger und Irene Suchy.
Vorwort: Hubert Christian Ehalt.
Weitra: Bibliothek der Provinz, 2015.
127 S.; geb.; m. Abb.
ISBN 978-3-99028498-8.

Rezension vom 13.01.2015

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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