#Roman

Schildkrötentage

Sophie Reyer

// Rezension von Beatrice Simonsen

KRISE steht insgeheim in großen Lettern über diesem Roman – und mindestens drei Rufzeichen dazu!!! Ganz offenbar ist es die klassische Midlife Crisis, die die Ich-Erzählerin plagt. Ihre Ausgangssituation ist unspektakulär: Flora ist Grafikerin, lebt alleine, hat eine Handvoll Freunde und alles wäre okay, hätte sie nicht eines Tages diese Falte in ihrem Mundwinkel entdeckt. Die Falte erscheint ihr als ein untrügliches Zeichen des Alterns und mit einem Mal drängt sich ihr die Frage nach dem Sinn des Lebens auf. Sie wird mürrisch und zieht sich zurück, hadert mit sich und der Welt, konfrontiert alle mit der Lebenssinnfrage und stellt fest, dass niemand ihr eine befriedigende Antwort geben kann. So macht sie sich in die Scheinwelt der Internet-Beziehungen auf, die sie zwar als solche erkennt, aber doch tröstend findet.

Ihr Vertrauen in die Mitmenschen wird immer schwächer, sie selbst immer schutzbedürftiger, je stärker sie alles in Frage stellt: Freundschaft, Arbeit, Beziehungen. Liebe sowieso. Aber nicht nur das macht ihr Unglück aus, denn die Krise wirkt sich nicht nur psychisch, sondern auch physisch aus. Ihr Rücken schmerzt und sie hat den Eindruck zu versteifen, so als würde ihr ein harter Buckel wachsen. Zuhause in ihrer immer enger werdenden Welt suchen sie Kindheitserinnerungen heim, die von einer fast manischen – weil unterdrückten – Liebe zu Schildkröten dominiert werden. Nur zu gern erinnert sich Flora, wie sie sich Höhlen in ihrem Bett baute und sich darin zurückzog. Und fast genau so fühlt es sich nun mitten im Erwachsenenalter an: Flora verschwindet in einem schwarzen Loch, aus dem sie nur noch mühsam den Kopf herausreckt … wäre da nicht ein schwarzgelockter Mann, der seit kurzem ihr neuer Nachbar ist. Semir heißt der neue Hausmeister, den sie beim ersten Kennenlernen brüsk zurückweist, der ihr aber praktisch wider Willen immer symphatischer wird und ganz langsam ihr Denken und Fühlen in Beschlag nimmt. Vom Balkon aus beobachtet sie den Mann, der um gut zwanzig Jahre älter ist als sie und offenbar ein geheimnisumwittertes Leben hinter sich hat, und beginnt eine zaghafte Zuneigung zu ihm zu fassen.

In vielen kleinen Schritten nähern sich die beiden einander an, er, der Handwerker vom Balkan, sie, die blasse Spröde, die bei ihm eine Wärme spürt, die sie sonst nirgends findet. Semir ist ein begnadeter Erzähler, der sie mit seiner phantasievoll ausgeschmückten Lebensgeschichte in Bann schlägt. Als Flora ihren Job verliert, sucht sie noch stärker seine Gesellschaft, arbeitet schließlich an seiner Seite und findet Genugtuung in der körperlichen Erschöpfung des Werkens. Sehr langsam entwickelt Sophie Reyer eine Liebesgeschichte, die sorgfältig alle Für und Wider einer solchen Beziehung abtastet und diese außerdem noch auf eine harte Probe stellt. Die Schildkröte als Metapher für inneren Rückzug und seelische Verhärtung scheint bei der jüngeren Autorinnengeneration ein passendes Bild für aktuelle Lebenssituationen zu sein: die Deutsche Jana Volkmann spielte in ihrem ersten Roman mit der ziemlich schrägen Verwandlung einer jungen Frau in eine Schildkröte („Das Zeichen für Regen“, 2015) und die Schweizerin Melinda Nadji Abonji nennt die jungen Männer der Balkankriege „Schildkrötensoldaten“ (2017). Die echte Welt wird nie aufhören Lebenskrisen auszulösen, aber die vielseitige Autorin Sophie Reyer hat einen Ausweg aus der Krise gefunden und erzählt mit leichter Hand von dem, worum sich das Leben schlussendlich doch immer wieder dreht: um die LIEBE.

Sophie Reyer Schildkrötentage
Roman.
Wien: Czernin, 2017.
248 S.; geb.
ISBN 978-3-7076-0615-7.

Rezension vom 07.11.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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