#Roman

Schattenfuge

Gabriele Bösch

// Rezension von Gabriele Wild

Eine Schattenfuge ist eine Fuge, die man zwischen der Oberfläche eines Bauteils und der Oberfläche eines daran angrenzenden einfügt, um eine optische Ablösung der beiden Teile zu erhalten. Eingesetzt wird die Schattenfuge aber genauso beim Rahmen von Bildern, insbesondere von Gemälden. Dabei wird das zu rahmende Bild von vorn in den Schattenfugen-Rahmen eingelegt und zur Bilderrahmenleiste hin wird ein Spalt gelassen, eben die Schattenfuge.

Der Titel von Gabriele Böschs neuem Roman, erschienen im Limbus Verlag, benennt ein optisches Detail, das gleichermaßen in der Architektur und in der Kunst eingesetzt wird und dessen Wesentlichkeit erst in der Betrachtung des Gesamten sichtbar wird. So verhält es sich auch mit dem Inhalt des Romans, in dem die Einzelteile erst nach und nach zum Vorschein kommen und sich zu einem Ganzen fügen: Eine Malerin und ein Architekt treffen an einem nasskalten Abend im Atelier der Malerin zusammen. Sie gehen höflich miteinander um, sind per Sie, bemühen sich um einen respektvollen Umgang. Dennoch ist spürbar, dass die beiden etwas miteinander verbindet. Es gibt eine Abmachung zwischen ihnen: Er soll erzählen, sie wird ihn dabei porträtieren. Doch zunächst stehen sich die beiden nur mit Einzelteilen gegenüber. Er mit fragmentarischen Sätzen und Gedanken, sie mit dem Kohlestift, den sie in der Hand hält und immer wieder aufs Neue auf dem Papier ansetzt. Ein dynamisches Wechselspiel der Perspektiven, ein Hin- und Herpendeln zwischen Nähe und Distanz beginnt.

Am Cover des Romans ist ein Gemälde von Magritte abgebildet: „Die Liebenden“ – darauf ist ein Paar zu sehen, vereint in einem Kuss, aber ihre Gesichter sind verhüllt. „Die Liebenden“ begehren einander, können einander aber nicht sehen: „Waren ihre Haare immer schon so rot gewesen? Sie hatte recht. Er hatte sie nie wirklich angesehen.“ (S.10), heißt es gleich zu Beginn im Roman. Die Begegnung zwischen dem Mann und der Frau ist nicht ihre erste und doch haftet ihr etwas von einem ersten Mal an. In zwei kurzen Sequenzen, die den Ereignissen dieses Zusammentreffens vorangestellt sind, ist die Vorgeschichte der beiden zu erahnen: „Das Leben zeichnet nicht in Geschichten. Erst in der Wiederholung, im Erzählen, wird das Erlebte zu Küstenstrichen“ (S.8), ist dort zu lesen. Das Erzählen des Erlebten und das Portraitieren, erst das Abstrahieren, das Auseinanderdividieren der Einzelteile, das Zerlegen in Linien, lässt eine zweite Annäherung der beiden Figuren zu.
Gabriele Bösch erzählt die Ereignisse einer Nacht chronologisch und lässt die Lesenden zu Zeugen einer Konfrontation werden, die nicht nur im direkten Gespräch ausgehandelt wird, sondern sich genauso hinter und vor der Leinwand in Form von Körperhaltungen und ersten angesetzten Punkten, Strichen und Linien abspielt. Die Linie beschäftigt ihn als Architekt gleichermaßen wie sie als Malerin. In der Reflexion über die Linie, die Bösch motivisch im Roman einsetzt, treffen sich die beiden immer wieder, gedanklich oder im direkten Gespräch: „Ich wollte wissen, wie das ist, gestrichelt zu denken. Die Welt in Linien zu zerlegen“ (S.11), antwortet sie ihm auf seine Frage, was sie zur Kunst geführt habe.
Eine diffuse, schwer überschreitbare Linie (auch von der Grenzlinie Horizont ist die Rede) hat sich zwischen die beiden gelegt. Der Ausgangspunkt dieser Entzweiung liegt bereits einige Monate zurück: Ausgelöst durch Probleme in der Arbeit und den Todesfall eines Arbeitskollegen („Der freie Fall ist eine schnurgerade Linie.“ S.12), beginnt der Architekt plötzlich an seiner Berufswahl zu zweifeln. Mit seiner Kündigung gerät sein Beziehungsleben ins Wanken und schließlich macht er sich allein auf eine Reise, die zu zweit begonnen hat. Auf einer abenteuerlichen Wanderung entlang des Jakobswegs hofft er wieder Orientierung zu finden und dem neu erwachten Wunsch oder der Sehnsucht nachzugehen, die Linien anders zu erforschen, als Künstler, nicht mehr als Architekt.

Doch um sich wirklich selbst zu erkennen braucht es jenes Gegenüber, das einem Spiegel sein kann. Gabriele Bösch zieht den „Liebenden“ ihres Romans die Hüllen vom Körper, lässt sie schließlich einander nackt gegenübertreten. Der Weg, den anderen wirklich zu sehen und zu erkennen, führt letztlich aber nicht nur über das Erzählen, das Portraitieren oder die enthüllten Körper, sondern vor allem über eine tiefe innere Verbundenheit zwischen den beiden, die sich nie ganz verloren zu haben scheint. Das Wiederzusammenfinden der beiden setzt Gabriele Bösch nicht nur mit klugen und schlicht schönen Sätzen, sondern auch erzähltechnisch reizvoll um: Die anfängliche Distanz, die Konzentration auf die Gedanken- und Gefühlswelt, die zurückhaltenden Dialoge brechen von Kapitel zu Kapitel auf und gehen in einen Erzählton von packender Dynamik über.
Die Bezüge auf die Bilder der Surrealisten, vor allem auf jene von René Magritte, machen den Roman zusätzlich zu einer Auseinandersetzung mit dem Sehen: Was ist sichtbar, was ist abbildbar, was ist wahr? Die Bilder Magrittes eröffnen immer wieder neue Reflexionsräume auf die Beziehung des Mannes und der Frau: „Er ist wie das ‚Schloss in den Pyrenäen‘, dachte sie, er ist ein schwebender Fels über flachem Meer.“ (S.89) „Der falsche Spiegel“ – dieses Bild von Magritte zeigt ein geöffnetes Auge, in dem ein bewölkter Himmel zu sehen ist. Durch dieses Auge kann man also nicht nach innen blicken, es reflektiert, ganz im Gegenzug zu dem Ausspruch, das Auge sei der Spiegel der Seele, nur das, was außen passiert. In Schattenfuge wird der falsche Spiegel schließlich durchbrochen. Dort, wo vorher eine Leinwand die Sicht nach Innen versperrte und die Worte kaum durchließ, findet am Ende dieses Romans eine Berührung statt, eine Berührung, die unter die Haut geht.

Gabriele Bösch Schattenfuge
Roman.
Innsbruck: Limbus, 2012.
176 S.; geb.
ISBN 978-3-902534-61-3.

Rezension vom 09.11.2012

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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