#Roman

Schattenbraut

Susanne Ayoub

// Rezension von Daniela Völker

„Für die anderen waren sie gleich. Friedrike und ihre Schwester Johanna. Johanna wollte Friederike nahe sein. Sie legte ihre heißen Hände in Friederikes, ihre Wange an ihren Hals. Sie schlüpfte unter die Decke und drängte sich an den Körper ihrer Schwester, umarmte sie. Selbst im Schlaf ließ sie nicht los. Von Anbeginn hatte Johanna Angst vor der Einsamkeit. Sie kam als zweite auf die Welt, Friederike eine halbe Stunde vor ihr. Friederike sehnte sich nach Freiheit. Johanna strebte nach Halt.“

Susanne Ayoub erzählt in ihrem neuen Roman Schattenbraut die Geschichte zweier Zwillingsmädchen im Wien der 1930er Jahre, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Auf der einen Seite ist die ältere Friederike, die pflichtbewusst nach dem Tod der Mutter die Arbeit im Handschuhgeschäft übernimmt und sich in Raoul, einen jüdischen Geschäftspartner der Familie, verliebt. Auf der anderen Seite steht die lebenslustige und ungestüme Johanna, die ans Musiktheater will, schon früh Erfahrung mit dem anderen Geschlecht macht und der Schwester das Glück mit Raoul nicht gönnt. Es kommt, wie es in Familientragödien kommen muss: Johanna spannt der Älteren den Verlobten aus und erwartet schließlich ein Kind von ihm. Friederike kann die Schmach und Schande nicht ertragen und flüchtet für einige Jahre zu Verwandten nach Helgoland.

In diesem ersten Teil des Romans sind die Rollen klar verteilt: Johanna erscheint als die Böse, der das Glück gesonnen scheint, Friederike als die etwas Naive, aber Gutherzige, die ihrer Schwester unterlegen ist. Mit der politischen Situation im Wien der Dreißiger Jahre verändert sich dies. Johanna und Raoul werden kein Paar, da Raoul Jude ist. Statt dessen heiratet Johanna den Nationalsozialisten Ludwig, zum Ärgernis des Vaters. Raoul selbst muss Österreich verlassen und sieht sich gezwungen, seine Textilfabrik der Familie Tallos und damit seiner ehemaligen Verlobten und der Familie der Mutter seines Kindes zu einem Spottpreis zu verkaufen. Auch wenn die Familie Tallos sehr kritisch den politischen Gepflogenheiten gegenüberstand, scheute sie sich nicht davor, sich durch die vorherrschende Situation zu bereichern.

Aus der Verbindung zwischen Raoul und Johanna geht Veronika hervor, die sich später selbst Ona nennt. Aber weder Vater noch Mutter fühlen sich für das Kind verantwortlich; zudem befinden sich beide nicht mehr in der Heimat – der Vater emigriert nach Amerika, die Mutter folgt ihrem neuen Mann. Paradoxerweise ist es jetzt ausgerechnet die zurückgekehrte Friederike, die sich um Ona kümmern muss. Hier kommt der Punkt, wo sich das Blatt wendet: Da Ona Halbjüdin ist und eine Gefahr für die Familie darstellt, schickt Friederike sie mit einem jüdischen Flüchtlingsschiff davon und lädt damit Schuld auf sich. Zu jener Zeit heiratet sie den Kollegen Joseph, den sie zwar nicht liebt, dem sie aber vertrauen kann, wie sich in den darauffolgenden Jahren zeigen wird. Als der Krieg vorbei ist, kehrt Ona nach Wien zurück. Schon vorher hatte sich gezeigt, dass das Mädchen nicht wie andere Mädchen ist; Ona leidet an einer Geisteskrankheit. Sie erkennt ihre alte Familie nicht mehr und muss langsam die deutsche Sprache wieder lernen. Auch Raoul kehrt wieder nach Wien zurück und will seine Tochter Ona zu sich nehmen. Friederike und Joseph verhindern dies jedoch und räumen den Leichnam Raouls aus dem Weg.

Die Geschichte der Familie Tallos, die Jahre lang geheimgehalten wurde, kommt schließlich ans Licht, als Emilio, der Sohn Johannas, nach Wien kommt, um die eigene Familiengeschichte zu erforschen. Er erfüllt damit den Wunsch seiner Mutter, die die Heimat noch ein letztes Mal sehen wollte. Dies ist ihr allerdings nicht mehr vergönnt: Johanna stirbt im Flugzeug nach Wien.
Emilio nimmt Kontakt zu Onas Tochter Valerie auf, die ihre Mutter jede Woche in der Psychiatrie besucht, mit der Großmutter Friederike ist sie seit vielen Jahren zerstritten. Emilios Besuch ist der Anlass für Valerie, sich wieder der Großmutter zu nähern und der Familiengeschichte auf den Grund zu gehen …

Schattenbraut ist ein spannender Familienroman im Spannungsfeld von Schuld und Sühne, Neid und Missgunst, der den Leser in das Wien der 1920er und 1930er Jahre eintauchen lässt. Susanne Ayoub erweckt die Wiener Bohème zwischen den Kriegen zum Leben, sie erzählt eine spannende Familien- und Liebesgeschichte und nicht zuletzt durch die Figur der Ona eine Geschichte der Behandlung psychischer Krankheiten.
Der Roman spielt aber auch in der Gegenwart, bedient sich der Rückblende und ermöglicht es durch die Verknüpfung der Charaktere, spielend zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu wechseln, womit er an Arno Geigers Familienroman „Es geht uns gut“ erinnert. Die Figuren wirken glaubhaft, einzig die Figur der Valerie könnte mehr an Plausibilität gewinnen.
Im Zentrum steht aber trotz allem der Geschwisterkonflikt, dem die Spannung dieses Romans zu verdanken ist.

Susanne Ayoub Schattenbraut
Roman.
Hamburg: Hoffmann & Campe, 2006.
480 S.; geb.
ISBN 3-455-00221-8.

Rezension vom 30.05.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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