#Roman

Schatten

Robert Schneider

// Rezension von Anne M. Zauner

Seit der „Luftgängerin“ ist es zum Feuilletonsport geworden, den geschliffensten Verriss über ein neues Robert Schneider Buch zu verfassen. Als ob man dem Autor nie und nimmer verzeihen könnte, dass man ihm einst den Erstling „Schlafes Bruder“ in den Schriftstellerhimmel gelobt hatte. Oder hat der Autor das Schreiben verlernt?
Vielleicht genießt es Robert Schneider ja auch, im Fadenkreuz der Kritik zu stehen, immerhin besser als lauwarmes Lob oder der Geruch von schäbigem Mittelmaß. Mag also sein, dass dem Autor diese Rezension nicht gefällt, denn ich halte Schatten, eine als Roman verkleidete Erzählung, für ein sehr lesbares, oft berührendes Buch, jedoch weder für eine literarische Sensation, noch glaube ich, dass es „Anlass zur Sorge über die geistige Befindlichkeit des Autors gibt“, wie ein Kritiker meinte.

Zwei Frauen sitzen in einem schäbig gewordenen einstigen Bohème-Restaurant im aufgelassenen Jachthafen von Sydney, zwei säkularisierte Jüdinnen, deren Eltern bereits in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts nach Australien ausgewandert sind, sodass sie vom nationalsozialistischen Inferno in Europa nur am Rande gestreift wurden.
Sie sind beide alt.
Da beginnt die eine, Florence Goldin, einen rasenden Monolog über ihre unglückliche Liebe zu Collin Lamont, dem längst verstorbenen Mann der anderen. Mit ungestillter und unstillbarer Sehnsucht beschwört sie ihre lebenslange unerwiderte Liebe. Das Objekt ihres Begehrens bleibt jedoch ein gestaltloser Schemen im Zwielicht. Florence versteigt sich in einen alles verzehrenden Liebeswahn, sie duldet nichts Geringeres als die absolute Liebe, die, wie in den Klassikern nachzulesen ist, immer eine unmögliche Liebe ist. Daher wischt sie die kurze Affäre mit ihrem engsten Freund Felix als „unnötige Pause der Sehnsucht“ vom Tisch, den Tod ihres alten Vertrauten Václav nimmt sie tränenlos zur Kenntnis, selbst Collin Lamont steht ihrem Ideal von Liebe im Weg, als er nach Jahren unvermittelt und schwer alkoholkrank vor ihr steht. Sie schickt ihn weg.
Florence Goldins Gegenüber, Kasha Markovski, ist in ihrer Unvollkommenheit und Charakterschwäche die sympathischere Figur. Aber auch an ihr nagt großes Leid. Nachdem Florence ihren Monolog zu Ende gebracht hat, ist nun sie an der Reihe, ihre Wunde zu öffnen – ihre Schatten. Kasha Markovski erzählt, wie sehr sie immer darunter gelitten hat, zwanghaft dem stärkeren Willen folgen zu müssen. Immer habe sie sich danach gesehnt, wie Florence Goldin dem eigenen Weg zu folgen.

Robert Schneider hat mit seinem Porträt einer alten, in Liebe entbrannten Frau einen Tabubruch begangen, der großes literarisches Potenzial in sich birgt. Es ist schade, dass er seine Idee nur zur Hälfte ausgeführt hat. Der Autor schildert zwar die Falten in Florence Goldins Gesicht, doch ihr Wesen bleibt von den Jahren so gut wie unberührt. Ihr Monolog könnte auch von einer modernen Julia, einer gut geschulten jungen Psychoanalytikerin zum Beispiel, gehalten werden, die sich vor ihrem Liebeswahn mit Freudscher Grandezza verbeugt und mit geschliffen messerscharfer Argumentation von ihren gescheiterten Selbstmordversuchen spricht.

Robert Schneider mag vielleicht die Chance verspielt haben, tatsächlich eine literarische Sensation zu liefern, er bringt den Leser der Schatten jedoch mühelos dazu, sich an den Nebentisch des spärlich besetzten Lokals auf der anderen Seite der Weltkugel zu setzen, um den Geschichten der beiden Frauen anzuhören und erst am Schluss aufzustehen, um spätnachts nach Hause zu gehen.

Robert Schneider Schatten
Roman.
Leipzig: Reclam, 2002.
207 S.; geb.
ISBN 3-379-00792-7.

Rezension vom 21.10.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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