#Prosa

Schalenmenschen

Lydia Steinbacher

// Rezension von Marcus Neuert

Ein Lapsus aus meiner Schulzeit, an den ich mich beim Anblick des neuen Buches von Lydia Steinbacher erinnere, war die leicht abgewandelte Wiedergabe einer Binsenweisheit durch eine Klassenkameradin, die in einem Aufsatz schrieb: „In einer rauen Schale steckt oft ein süßer Kerl.“ Sie musste sich höhnisches Gelächter von uns damals vielleicht zehnjährigen Jungs anhören, die wir es nicht besser wussten.

Lydia Steinbacher, deren Erzählband Schalenmenschen soeben erschienen ist, und die eine schöne naturalistische Zeichnung für den Einband mit stacheligen Gehäusen nebst daraus hervorbrechenden Kastanien gleich selbst beigesteuert hat, scheint hingegen eher die englischsprachige Entsprechung des Sprichwortes im Sinn gehabt zu haben : „Don’t judge a book by its cover“. Süße Kerne, noch viel weniger süße Kerle, sind in den zwanzig kleinen Erzählungen eher nicht auszumachen. Vielmehr sind die Menschen, um die es in diesen Geschichten geht, vorwiegend unglücklich und mitunter auch traumatisiert durch Erlebnisse, die teils lange zurückliegen – aber man sieht es nicht auf den ersten Blick.

Die im niederösterreichischen Ybbstal aufgewachsene Autorin ist mit ihren erst 26 Jahren bereits eine feste Größe in der literarischen Szene Österreichs. Sie nahm an wichtigen Poesiefestivals teil und erhielt mehrere Stipendien. Eine frühe Förderung ihres Talents durch die Schreibakademie ihres Geburtsortes Waidhofen unter der Leitung von Evelyn Schlag und Peter Bubenik hatte bereits 2014 zu einem ersten Lyrikbuch geführt, 2017 erreichte sie mit ihrem zweiten, im Limbus Verlag erschienenen Gedichtband Im Grunde sind wir sehr verschieden größere Aufmerksamkeit. Dieser Titel beschriebe an und für sich auch bereits, worum es in den Erzählungen der Schalenmenschen geht: die Entfremdung, das Anderssein, das Nicht-Finden-Können des Du. Vater-Tochter- und Mutter-Sohn-Konstellationen, homo- und heterosexuelle Liebesbeziehungen, aber auch die Begegnung von völlig Unbekannten oder gar von Mensch und Tier sind die Grundkomponenten dieser Geschichten, in denen Rückblenden und Traumsequenzen das Zeit-Raum-Gefüge der diegetischen Wirklichkeit mitunter auflösen und in den Hintergrund treten lassen, bis sich aus dem erzählerischen Gespinst eine nicht selten ungeahnte Wendung herausschält.

Lydia Steinbachers Prosastil ist unaufgeregt, unprätentiös und präzise, dabei von einem lyrisch geprägten Unterton getragen, der die inneren Zustände der Protagonisten von leiser Melancholie bis zu abgrundtiefer Verzweiflung zu jedem Zeitpunkt in ihrer gesamten Spannweite auszuloten imstande ist. Ihre Sprache hat Lydia Steinbacher auch in ihren erzählenden Texten bereits gefunden. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man die Autorin für erheblich älter halten, so selbstverständlich ergeben sich die Formulierungen, so wenig gesucht wirken Ausdrucksweise und die situative Motivation ihres literarischen Personals.

So in sich geschlossen die künstlerische und die handwerkliche Ebene dieser Geschichten zu wirken verstehen, so unterschiedlich sind doch ihre inhaltlichen Ansätze. Jeden dieser meist nur acht oder zehn Seiten langen Texte kann man zu ganz unterschiedlichen Zeiten für sich allein lesen, wobei durch die vorgestellten Charaktere immer wieder neue Räume der Vorstellung bei den Lesenden eröffnet werden.

Da ist etwa das elternlose Geschwisterpaar auf der Flucht: die ältere Schwester, die ihren kleinen Bruder erst noch sicher untergebracht wissen will, bevor sie, in auswegloser Situation skrupellosen Menschenhändlern ausgeliefert, ihrem jungen Leben selbst ein Ende setzt. Oder eine Tochter, die ihren verloren gegangenen Vater auf einer fiktiven Insel sucht, auf der alle Bewohner in ihrer eigenen abgeschiedenen Welt leben. Da gibt es den Geschäftsreisenden, der in einem fremden Land wegen eines am Flughafen vertauschten Koffers eine wildfremde Frau kennenlernt und zum ersten Mal im Leben die Erfahrung macht, von jemandem wirklich erkannt worden zu sein. Oder das Chamäleon, dessen Tage im Reptilienhaus nur durch die Besuche eines Kindes, das sich anders als alle anderen zu ihm verhält, einen Sinn bekommen.

Bei all diesen Konstellationen spielen neben der Sprache die Zeit und das Element des Traumhaften eine ausgeprägte Rolle. Die Erzählungen setzen stets im Präsens ein, um häufig in Rückblenden Verschüttetes, Traumatisierendes oder in anderer Form kontextuell Wichtiges für das Verständnis des Handlungsfortgangs oder der Figuren ans Licht zu holen.

Die Wirkung der Schalenmenschen auf die Leserschaft lebt von diesem Rückbezüglichen, von der Dichotomie dieses Innen versus Außen, die den einzelnen Charakteren letztendlich immer wieder ihre Einsamkeit, ihre Vereinzelung in der Masse, die vermeintliche Abseitigkeit ihrer Empfindungen und ihrer Gedankenwelt vor Augen führt. Mit diesen Erzählungen gelingt Lydia Steinbacher auf eindrucksvolle Art und Weise eine Ästhetisierung menschlicher Isolation, der erfreulicherweise so gar nichts Larmoyantes anhaftet.

Gedichte, nochmals Gedichte und nun Erzählungen: auch Steinbacher wird vielleicht den Weg zur Form des Romans finden in nächster Zeit, und sei es auch nur, weil ein auf bestverkäufliche Ware angewiesener Literaturbetrieb sie dazu drängen mag. Es bleibt abzuwarten, wie dies ihren Stil beeinflusst. Wünschenswert für ein aufmerksames Lesepublikum wäre aber, wenn sie der kleinen Form zumindest nicht ganz den Rücken kehrte. Bücher wie die Schalenmenschen offenbaren, wie unterbewertet die kleine Erzählung momentan leider ist – und wie beeindruckend sie unter den Händen einer begabten Autorin wirken kann.

Lydia Steinbacher Schalenmenschen.
Erzählungen.
Wien: Septime Verlag, 2019.
216 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-902711-86-1.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 05.11.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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