#Lyrik

Scardanelli

Friederike Mayröcker

// Rezension von Andrea Grill

Wenn Dichten heißt, einer Stimme zu lauschen, die größer ist als das Ich – dem Murmeln der Menschheit – dann sind die vierzig Gedichte im jüngsten Band von Friederike Mayröcker ein wunderbarer Lauschangriff. Ein Hören nach Innen, in zweifacher Hinsicht.
Einerseits auf das unverwechselbar Mayröckersche, geöffnete und nicht mehr geschlossene Klammern – nicht nur qua Zeichensetzung; dem Leser wird eine verrückende Privatheit gewährt.

Andererseits auf den titelgebenden Scardanelli. Wer ist Scardanelli? Mayröckers erfundener Gesprächspartner? Ein abwesender, verflossener Geliebter, Begleiter auf Spaziergängen? Eigentlich tut es kaum zur Sache, wer oder was Scardanelli ist. Vielleicht ein Käfer? Ein Vogel, eine Raupe, eine Blindschleiche unter Blechgieszkanne? Ein Teil des Getiers, das die Gärten und Waldlichtungen bewohnt, die in diesen Gedichten besucht werden? Fraglos ein gelungener Titel. Wer weiter fragt und liest, wird entdecken, dass sich eine Person dahinter verbirgt, ein Dichterkollege: Friedrich Hölderlin (1770 – 1843), mit dem die Grande Dame der zeitgenössischen deutschsprachigen Dichtung mehr als der Vorname verbindet.

Der ironischerweise unter anderem mit dem Gedicht „Die Hälfte des Lebens“ (Mit wilden Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See,…) berühmt gewordene Hölderin verbrachte seine zweite Lebenshälfte in mehr oder weniger großer geistiger Umnachtung in einem Turmzimmer am Neckar. Aus der psychiatrischen Anstalt war er als unheilbarer Fall entlassen worden. Noch 36 Jahre lebte Hölderlin, der nun Scardanelli genannt zu werden wünschte, oder Buonarotti oder Killalusimeno, bei der Schreinerfamilie Zimmer, der das Turmzimmer gehörte. In diesem Zimmer der Familie Zimmer beginnt Friederike Mayröckers erstes Gedicht mit einer Prise Hölderlin.

Ihre Wahlverwandtschaft mit Scardanelli kann man – so man sich durch dieses Buch zum Hölderlinlesen verführen lässt – auch in früheren Werken erkennen. Gärten als Zufluchtsorte an den Strömen der heiligen Urwelt (Hölderlin) sind den zwei Dichtern gemein.
So sage, wie erwartet die Freundin dich / In jenen Gärten, da nach entsetzlicher / Und dunkler Zeit wir uns gefunden?, sagt Hölderlin.
im Garten sagst du die Bäume / sind noch die gleichen wie damals, sagt Mayröcker.

Anfänge und Enden im herkömmlichen Sinn gibt es in den hier versammelten Gedichten nicht. Naturgemäß müssen die gedruckten Texte irgendwo beginnen und irgendwo ein Ende haben. Doch, wie immer bei Mayröcker, deutet schon die Schreibweise, Klein- oder Großbuchstaben, wie es kommt, an, dass noch etwas davor oder danach sein könnte. Wer das liest, fängt Teile eines intimen Gespräches auf. Die scheinbare Bruchstückhaftigkeit erhöht die Intensität.

„Scardanelli“ ist wie das Sitzen in einem halbwilden Garten. Theoretisch weiß man, alles ist angelegt, menschengemacht. Lässt man sich aber nieder, so wirkt nichts aufgesetzt, alles ganz natürlich, als gäbe es gar keine andere Möglichkeit.
Die Kunst der Wortgärtnerin! Gärten sind ein Ausschnitt aus der Welt, ihr Dekolleté. Eben durch die Begrenzung und das Wissen, dass es außerhalb weiter geht, sieht man genauer. Betrachtet den Garten, seine Utensilien, Vögel, Sessel, Rosen, und entdeckt ihn doch jedes Mal neu, sobald man sich um die eigene Achse dreht.
Zwar gehn die Treppen unter den Reben hoch / Herunter, wo der Obstbaum blühend darüber steht / Und Duft an wilden Hecken weilet, / Wo die verborgenen Veilchen sprossen; (Hölderlin).
Hölderlins Veilchen werden gepflückt:
auch verweilten diese Schaafe, und jetzt nach so vielen Jahren / Tränenjahren mitten im Winter Blättchen sprieszend („wo / die verborgenen Veilchen sprossen“) unter halb hochgezogenen / Blenden mein Bibelchen mein Flügelhorn ich habe dich doch / überall geheiratet
und zu Kränzchen verflochten:
Fenster wo junge Blättchen wo verborgene Veilchen schwärmten.

Das Besondere, Seltene an „Scardanelli“ geht weit über die geheimnisvolle Gabe hinaus, die das Buch für Literaturwissenschaftler darstellt. Mit entwaffnendem Freimut verrät Mayröcker, was wir alle wissen wollen. Eine Ahnung davon, was es heißt, alt zu sein. Schon in „Lebenslauf“, einem Gedicht aus dem Jahr zweitausenddrei (aus: Gesammelte Werke, Suhrkamp 2004), wendete sich das Ich an zwei nie geborene Kinder, und ich würde mir alt vorkommen neben / ihnen und sie um Himmelswillen / um Rat fragen den sie mir vielleicht.
Hölderlin schreibt in einem titelgleichen Gedicht, Denn nie, sterblichen Meistern gleich, / Habt ihr Himmlischen, ihr Alleserhaltenden, / Dass ich wüsste, mit Vorsicht / Mich des ebenen Pfads geführt.

Das alternde Ich aus Scardanelli ist innerlich voll stürmischer Energie. Jung und überquellend wie die oftmals besuchten Bad Ischler Quellen, erinnert es sich an Kindheitsreisen, Frühlinge, Herbste, Küsse, und die Tiere: Käfer und Köter, wie Herzblut. Es betrachtet sich im Spiegel, mit Entsetzen und Verwunderung. Das Innere will mit dem Äußeren ganz und gar nicht mehr übereinstimmen. Und wer wird sich an einen erinnern, wenn man dann nicht mehr ist? An das Eisschlecken vor dem Fotogeschäft? An die Sommerküsse?

Das achtzehnte Gedicht trägt den Titel, „Bedenken von der Liebe“, und da heißt es,
an dir erkannt, was mich verwirrte ALS ICH SPRACH ZU DIR WIE NAH / DER TOD MIR und dasz ich Jahr für Jahr mir Aufschub erflehe und / wie du darauf mich umarmtest. Damals in Bad Ischl, Zichorie und / Waldgehölz, wie sie sich krallten mit zärtlichen Füszen : klammer- / ten am schwankenden Epheu unter dem Gasthof Fenster: SPATZEN / Mei- / sen Stieglitze im gleiszenden Morgenlicht, damals…

Wenn die Angst vor dem Tod so schön ist.

Friederike Mayröcker Scardanelli
Gedichte.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009.
56 S.; brosch.
ISBN 978-3-518-42068-3.

Rezension vom 30.04.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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