Kreisen Grosseggers Rom-Gedichte um Alltags-Situationen als Mikrodramen der Poesie, triviale Begegnungen in einer Dimension größter observierender Genauigkeit, die immer wieder auch als „natura morta“, Stillleben, Augenblicke einfrieren und analysieren, so sind die „saxa alba“-Studien dagegen titellose Kurzpoems und Inventuren, Versuche einer Bestandsaufnahme dessen, was sprachlich möglich ist in der Wahrnehmung. Nennung erfolgt als Brechung und Beschwörung, Metaphern und Antropomorphismen („der berg brüllt“) werden durch Paradoxa und Umkehrungen der Idiomatik ausgehebelt, vitalisieren und durchlüften so das rhetorisch tote Sprachmaterial. Hier wird geologisch chiffriert (wie schon Celan systematisch mit geologischen Vokabularien gearbeitet hat), der Stein wird Kernmetapher, rund um diesen wird mit Sprachlichem parallelisiert, im Alpinen etwa in Form von „sprachflöckchen“: „die schneedecke wird warm sein“, „wie winzige lawinen rollen“, „bis ich zum stein erweiche“.
Punktuell, pointilistisch, in konkreten Elementen finden sich auch Bezüge zu den Verfahren einer konkreten Poesie, die oft in scharfer, trockener Setzung besteht. Grosseggers Gedichte sind aufgebaut als schrittweise Reihungen eines Stenogrammstils, die an Vernehmungsprotokolle erinnern: Was passierte zuerst, was gleich darauf, Nuancen einer Beobachtung und eines Geschehens, in dem alles zur Spur, zum Anzeichen, zum Verdachts- und Evidenzmoment einer Bedrohung und Isolation wird. Es sind Momente aus der sozialen Dichte, winzige Schnittstellen der Alltagsbegegnungen, die Grossegger in den Rom-Gedichten wie in Zeitlupe, in der „slow motion“ eines refrainartigen Vorgangs mit „und dann“, „und dann“, präzisie protokolliert, Moment des Erschreckens vor einer Wirklichkeit, aber auch der stummen, nonverbalen Kommunikation: ein Lächeln in einem unerwarteten, mal beglückenden, mal beunruhigenden Einklang, einem Moment des Vertrauens sowohl wie des Vertrauensverlustes, wenn sich zwei Daseinswelten wie in einem Blickkanal öffnen, kurzfristig erhellen, wieder verlöschen.
Schlicht und souverän in ihrer Kürze sind fragmentarische Figuren wie der Zweizeiler „die heile welt ist abgetreten/ die harte tracht versteinert mich“, in denen Geschichte und Missbrauch, Folklore und Idyllik verdichtet sind in einem Minimalismus, der nicht mehr weiter zu reduzieren ist; größte Dichte von Information ist hier erreicht, Segmente überlagern sich, die sogenanntes Brauchtum und Zeitgeschichte in unmittelbarer Beziehung auf das Subjekt setzen und seine uneinlösbare Sehnsucht nach Begegnung und Befriedung. Immer wieder überraschend in ihrer Prägnanz sind dabei Grosseggers Zusammenführungen von Elementen der Wahrnehmung und Verkörperlichung: „mintgrün das haargras“, „der frost färbt den himmel“. Sensuell wird hier vorgegangen, mit feiner, energetischer Feder und Formulierung, und hingeführt auf Momente von Evidenz und stummem Schauen, etwa mit qualitativen Parametern in einem Kompositum wie „schneestill“. Grossegger gelingt auf den Verfahren der Moderne eine Naturlyrik, in der sich der „saxa alba“ im Wortsinn beschrieben findet als weißer Stein, der hier zum Synonym wird für blendende Zeichnung, Versteinerung von Lebendigem in der Form, wie es auch die Schrift ist: Zeichnung im Muschelkalk.
Grosseggers Lyrik führt in eine Rücknahme der Möglichkeiten, die in der Ernüchterung wohnt: die Sprache reicht nicht an die Wirklichkeit, sondern figuriert diese wie ein „frame“, ist bestenfalls Umrisslinie, aber nicht „content“, Inhalt und Bedeutung; dieser wird nur im Leerfeld der Zeichenräume eingegrenzt. Nicht zufällig tauchen hier Wittgensteinsche Sprachfiguren auf wie der Wunsch, im Sehen hinter das eigene Auge zu treten, hinter das Sehen zu sehen: In Grossegger Lyrik geht es um Prozesse des Wahrnehmens und Erkennens, um sprachliche Adaption und Angleichung an das Phänomen, durch Liste und Variation, durch Versuch und sprachliche Reflexion. Es sind kleine Zeichnungen, die Grossegger vorlegt, ein Skizzenbuch im Versuch zu verstehen.
Autonom und doch in Parallelität ihrer Techniken finden sich im Text eingelagert und diesem nachgestellt die Bildessays und Fotostudien von Lea Titz, deren Bildauflösung in ihrem Pixelraster die Digitalität der traditionellen Bildstickerei evoziert und diese sowohl spielerisch wie programmatisch einsetzt zur Brechung eines touristischen Blicks auf Berg, Stadt und Meer. Essays von Daniela Bartens und Werner Fenz zeigen am Ende des Bandes komplementäre Bezüge auf, verweisen auf die abstrahierende Parallelität der konzeptuellen Vorgangsweisen.