#Roman

Samy

Zdenka Becker

// Rezension von Barbara Rieger

Der Roman schildert die Geschichte einer rassistischen Diskriminierung und deren tragische Auswirkungen auf den Protagonisten Samy, einen dunkelhäutigen Jungen, der in Bratislava aufwächst. Er protokolliert, wie kontinuierliche Gewalt und negative Fremdzuschreibungen nicht nur die Identität, sondern auch die Psyche unweigerlich zerrütten und zur Selbstzerstörung führen.

In 46 Kapiteln wird rückblickend von dem Zeitpunkt aus erzählt, als Samy mit Ende zwanzig schwer verletzt im Krankenhaus erwacht. Bei ihm ist Hana, eine Psychologin, die beste Freundin seiner Mutter Olga. Im letzten Kapitel stellt sich heraus, dass Samy für den Tod seiner Mutter verantwortlich ist.
Olga, eine leidenschaftliche Kommunistin, studiert Soziologie in Ostberlin und hat eine vermeintlich „glänzende Zukunft“ vor sich. Doch 1979 trifft sie auf einer Tagung in Westberlin nicht nur ihre Schulfreundin Hana wieder, sondern auch einen Wiener mit Migrationshintergrund.
„Der Mann war ihr Schicksal“, hält Hana, die sich selbst nicht auf Männer einlässt, fest.
Olga beschließt, das Kind, das bei dieser intensiven, aber kurzen Liebesaffäre entsteht, zu bekommen und alleine groß zu sehen. Schon das wird vom familiären Umfeld und vom Großteil der Gesellschaft nicht gut aufgenommen. Hinzu kommt, dass der Vater des Kindes, Dr. Sunjay-Sam Gupta, aus dem Süden Indiens stammt und Samy seine dunkle Hautfarbe erbt.
Seit der Kindergartenzeit wird Samy aufgrund dieser Hautfarbe von anderen Kindern, angeführt von Harry, dem Sohn einer anderen Schulfreundin seiner Mutter, beschimpft, bedroht, verprügelt und von Betreuungspersonen kaum beschützt. Auch seine Mutter Olga schafft es nicht ihn zu schützen, sie verharmlost nicht nur die Gewalt, der ihr Sohn seit seiner Kindheit ausgesetzt ist, sondern versucht sogar seine Hautfarbe zu negieren:
„Ich bin schwarz. Warum bin ich schwarz, Mama?“
„Du bist doch weiß. Schaue dich nur im Spiegel an. Deine Haut ist so schön, so seidig.“
„Mama, ich bin schwarz wie Kohle.“
„Samy, du bist nicht schwarz. Du bist Österreicher.“ (S. 14)
Obwohl Samy von seinen Großeltern, von seiner behinderten Tante Meli, von Hana, seiner Mutter, ihrem späteren Partner und dessen Kindern sowie von Julia, seiner ersten Freundin, mehr oder weniger schnell akzeptiert und geliebt wird, kann er keinen Platz in einer Gesellschaft finden, die ihn als „Zigeuner“ identifiziert und abwertet.
Auch zu seinem Vater, der bis zu einem weiteren zufälligen Zusammentreffen mit Olga nichts von seiner Existenz wusste und mittlerweile verheiratet ist, findet er keinen Zugang. Vielmehr fürchtet er sich vor dem dunkelhäutigen Mann und fängt an ihn zu hassen.
Im Laufe der Pubertät beginnt Samy sich mit den Ausgegrenzten der Gesellschaft, die mit den sozialen Umbrüchen nach 1989 sichtbarer wurden, zu identifizieren und sich schließlich so zu verhalten, wie es ihm als „Zigeuner“ und „Ausländer“ zugeschrieben wird. Die Beziehung zu Julia gibt ihm kurzfristig Halt und Hoffnung, die Trennung – ihm wird von Julias Vater, der gegen die Beziehung ist, ein Einbruch unterstellt – ist ein schwerer Schlag für ihn.
Er fährt heimlich nach Wien, sucht die Praxis seines Vaters auf, der sich auf PatientInnen mit migrationsbedingten Problemen spezialisiert hat. Samy spricht aber nicht mit ihm, sondern bettelt stattdessen auf der Mariahilfer Straße, so wie es Ondrej, ein adoptierter Verwandter von ihm, „ein echter Rom“ angeblich tut. Als er diesen schließlich trifft und feststellt, dass er ein ganz normales Leben führt, ist Samy geradezu enttäuscht, so sehr hat er sich bereits mit dem negativen Bild identifiziert.
Zuflucht findet Samy im Internet und schließlich bei den Junkies am Hauptbahnhof in Bratislava. Endlich fühlt er sich einer Gruppe zugehörig, die ihm außerdem Schutz gegen die Skinheads bietet, die noch immer von Harry angeführt werden. Samy beginnt Raps zu schreiben und rebelliert immer mehr gegen seine Mutter.
Olga, die als Sozialarbeiterin tätig ist, ist mit ihrem eigenen Sohn vollkommen überfordert, flüchtet sich in die Religion und erkennt die Drogensucht ihres Sohnes viel zu spät. Hana versucht zu intervenieren und möchte Samy in eine psychiatrische Klinik bringen, doch es ist zu spät. Harry hat sich seine eigene Form von „Licht“ gebastelt, eine Bombe:
„Ein paar Sekunden vor der Explosion lag eine eigenartige Stille in der Küche. Die Energie zwischen ihren Augen erfüllte den Raum. Olga sah ihren neugeborenen Sohn, wie ihn ihr die Hebamme langsam wie in Zeitlupe in ihre Arme legt, wie er an ihrer Brust saugt, wie er weint, wie er lacht. Das Kind, das weiche, seidige Knäuel in ihrer Umarmung duftet herrlich nach Milch, Honig und Liebe, es wächst schnell, wird größer, immer größer, spielt Fußball, fährt Fahrrad, geht weg, weit weg, winkt, verschwindet im Nebel … “
Samy selbst überlebt die Explosion und wird später für den Mord an seiner Mutter verurteilt.
Der Roman zeigt die unterschiedlichsten Formen von Rassismus und was diese mit einem Menschen machen, der ihnen ausgesetzt ist. Am meisten schmerzt dabei nicht die offene Gewalt der Skinheads, sondern das Unvermögen nahestehender Menschen, mit der Situation umzugehen.
Dabei sind die Protagonisten des Romans weniger schlecht oder böse (Auch für Harrys Verhalten werden Erklärungsansätze geliefert) als schwach und feige. Es gelingt ihnen nicht, sich von gesellschaftlichen Zwängen und den eigenen Denkmustern zu befreien, sie sind Gefangene der Umstände, auch wenn sie, wie Hana, analysieren können, was passiert.
Nur der adoptierte Rom Ondrej, der „echte Zigeuner“ hat es geschafft, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und glücklich zu werden. Die anderen scheitern mehr oder weniger stark an gesellschaftlichen Erwartungshaltungen und persönlichen Schicksalsschlägen.
So scheint es unabwendbar, dass sich der Hass, dem Samy seit seiner Kindheit ausgesetzt ist, gegen sich selbst sowie gegen seinen Vater und schließlich gegen seine Mutter wendet, die für seine Hautfarbe und damit für seine Ausgrenzung verantwortlich sind.
Der Text liest sich zum Teil weniger wie ein Roman, eher wie eine Biografie und ein Zeit- und Gesellschaftsdokument. Erklärende Passagen geben Hintergrundinformationen zur Tschechoslowakei bzw. Slowakei. Die Sprache steht im Dienst der Handlung, manchmal blumig, manchmal trocken werden die Ereignisse geschildert. Manches mag unglaublich erscheinen, und ist vermutlich gerade deswegen „wahr“.
Denn die Tragödie, die in diesem Roman erzählt wird, beruht auf einer wahren Begebenheit. Sie wurde von der Autorin „natürlich stark verändert und in andere Länder mit anderen Ethnien verlegt“ (S. 283).
Diese Geschichte, so tragisch sie ist, könnte überall und jederzeit passieren. Sie rüttelt die Leserin auf, macht wütend und mahnt zu mehr Mut und gesellschaftlicher Verantwortung.

Zdenka Becker Samy
Roman.
Meßkirch: Gmeiner, 2018.
264 S.; geb.
ISBN 978-3-8392-2254-6.

Rezension vom 21.03.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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