Florian Neuner, in Berlin lebender Schriftsteller, Journalist und Herausgeber der Zeitschrift „Idiome“, berief sich auf diese Tradition anno 2008 – im Dräuen der Metamorphose des Ruhrgebiets zur Kulturhauptstadt zwei Jahre später – und versuchte sich mittels 28 Umherschweifexperimenten an einer psychogeographischen Kartographierung dieser von fünf Millionen Einwohnern bevölkerten größten künstlichen Landschaft Europas.
Analytischen Blickes beobachtet und kritisiert er die Privatisierung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raums, dessen Überwachung durch Staat und Firmen sowie die Penetration durch Auto- und Güterverkehr, die duldsame Widerstandslosigkeit der von Unterhaltungs- und Krawallmedien eingelullten Arbeiter und deren Mangel an proletarischem Bewusstsein. Die Machtmechanismen des Kapitalismus sorgten (auch) hier für eine Denaturierung und Stadtentwicklungsplanung durch Konzerne, an deren vorläufigem Ende (teils schon wieder brachliegende) Wirtschaftsparks und Investorenarchitektur stehen. Neuner betreibt hierbei angewandte Stadtforschung und dechiffriert das Soziotop postindustrieller Groß- und Kleinstädte als lesbaren Text. Beim ziellosen Umherschweifen als „narrative Methode“ (94) und „antizipatorische Forschungs- & Lebensweise in Zeiten einer Windstille der Klassenkämpfe“ (100) ist er sich jedoch bald bewusst, dass es kaum „als Gegenprogramm angesehen werden [kann] zur Realität des organisierten Waren- & Datenverkehrs.“ (92) Gleichwohl: Sieht man vom auf andere Weise geglückten Unterfangen des Diskurstheoretikers Jürgen Link („Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee“, 2008) ab, taugt Neuners spielerische Dekonstruktion und spielerische Neutextierung des Ruhrgebiets als heute begrüntes Industriemuseum durchaus zu einer Programmatik avancierter Stadtschreibung.
Sich von der Wirkung des Zufalls treiben lassend, notiert er Graffiti, Wandanschläge, Werbungen und Denkmalinschriften ebenso wie Gespräche in Kneipen, wo er Pils und Schnäpse trinkt, trifft aber auch lokal wirkende Künstler diverser Sparten, deren Gespräche alternierend mit Essays die Umherschweifberichte unterbrechen. Diese sind wiederum mit theoretischen Zitaten u.a. von Guy Debord, Henri Lefebvre und Michel Butor durchsetzt. Sein Ziel sind Situationen, Handlungsspielräume und Alternativen zur politisch wie ökonomisch diktierten Stadttextur. Anders als in Neuners bisherigen Prosawerken, in denen der vormalige Editor der experimentellen Literaturzeitschrift „perspektive“ an der Sprache feilt, finden wir in diesem Text kurze, teils abgehackte und prädikatlose Sätze, „Dokumente gelebter Erfahrung werden in eine parataktische Abfolge von Wahrnehmungen & Kommentaren gebracht.“ (94)
Eine nüchterne Bestandsaufnahme? Mitnichten, Neuner schwärmt für die Straße als Ort der interferentiellen Begegnungen und Revolten, lässt – die Gegenwart betreffend skeptisch – die im Ruhrgebiet bereits 1919 wie auch in den Achtzigern heftigen Arbeitskämpfe Revue passieren und geißelt die Kitschproduktion in der Besinnung auf die Schimäre einer „guten alten Zeit“, welche in Kleinstädten nichtsdestotrotz mit der Sehnsucht nach Urbanität einhergeht – die Kneipen heißen dann „Bistro Paris“. Das tausendfache Vorkommen eines „Restaurants Olympia“, türkischer Lokale, serbischer Grills, italienischer Gasthäuser und auch portugiesischer Referenzen hingegen ist der Welle an Anwerbungsimmigration geschuldet; die billigen Arbeitskräfte von einst sind heute, in Arbeitslosigkeit und Pension geschickt bzw. in zweiter Generation, vielfach Gastronomen geworden. Denn andernfalls blüht die Folklore: „Wenn die Arbeit ausgeht, kommt sie ins Museum.“ (195)
Im polyzentrischen, nach dem Niedergang der Montanindustrie heute auf Energie, Elektronik und Wissensindustrie basierenden Ruhrgebiet, das er von Stahlhausen über Bergkamen und Castrop bis Marl durchwandert, folgt Stadt auf Stadt; rhizomatisch weigert es sich zur Metropole zu werden, die das Kulturhauptstadtkonzept vorsah. Kontrollierte und durchschaubare Zwischenstädte alternieren mit montanhistorischen Museumsinseln und eigenschaftslosen Neo-Vorstädten, Gewerbe- mit Wohngebieten, wo „Ästhetik in Anästhetik umkippen kann.“ (273) Denn hier, wo heute der Bedeutungsoverkill der technischen Zeichen regiert, begann bereits Ende der 1950er die De-Industrialisierung, die im bundesdeutschen Landesdurchschnitt erst zwei Jahrzehnte später eintrat. Mit der Kohlenkrise, der Markteroberung der Erdölkonzerne, der geringer werdenden Konkurrenzfähigkeit des Bergbaus am Weltmarkt und der Neudimensionierung der Stahlindustrie kam es zu einer Strukturkrise, der auf Geheiß von Krupp, Thyssen & Co Zechenschließungen und Massenentlassungen folgten. Auch Streiks und Demonstrationen Hunderttausender konnten die Fusionen und Spekulationen, den Ausverkauf von Stadtidentitäten und deren nunmehr dekorierte bzw. touristisch musealisierte Diskontinuität nicht verhindern. Und der Stadt- und Zeitenflaneur Neuner fragt: Worin bestehen heutige Utopien, wenn es sie denn gibt? In den aktionslosen, stereotypenschwangeren Sprüchen der von neoliberaler Wirtschaftspolitik so genannten „Modernisierungsverlierer“, deren verbales Aufbegehren von der „Bild“-Zeitung kanalisiert wird, wohl kaum. Die subalterne Lebenserfahrung wird mit Binsen- und Schlagerweisheiten in Kneipen kompensiert, die häufig fluktuieren oder für immer schließen. Auch scheint „das ‚rote Ruhrgebiet‘ von der Sozialdemokratie in ein politisches Wachkoma versetzt“ zu sein (307).
Und dennoch konstatiert der Autor: „Die Krise des Ruhrgebiets nimmt möglicherweise die Entwicklung künftiger Krisenzentren vorweg. Wenn es an der Ruhr brennt, reicht das Wasser des Rheins nicht, um das Feuer zu löschen.“ (354) Was war geschehen? Nach Stellen- und Identitätsabbau wurden ältere Bergleute pensioniert und jüngere zur Abwanderung gezwungen, aus der charakteristischen Einheit von Arbeiten und Wohnen wurden getrennte Funktionsbereiche. Dem Verfall der Siedlungssubstanz, Wohngebäudeabriss und gar Rückbau folgte eine soziokulturelle Devastierung, die sich auch räumlich ausprägenden Machtverhältnisse veranlassten eine Separation oder Gentrifizierung und der gelebte Kollektivstolz auf die Montan- und Industriegeschichte verkümmerte zur touristischen „Route Industriekultur“.
Als Leser muss man nicht bei allen „Dérives“ partizipieren, sondern kann achronologisch in den Texten umherschweifen, bisweilen redundante Kneipen- und Auslagenbeschreibungen aus- und sich in die kompilierte Regionalhistorie einlassen. Neuner referiert mit luzider Beobachtungsgabe kalte Tristesse und menschlich inadäquate Agglomerate ebenso wie identitätsstarke soziale Felder und Landschaften, seine Stadtnotizen zeichnen sich durch einen politisch bewussten Duktus bar jeder Ironie und Ornamente aus. Streckenweise bleibt die Wiedergabe der ästhetischen Betrachtungen und Kartographien des Stadttextes auf rein deskriptivem Niveau, dann aber glänzen wieder Erkenntnisse wie diese: „‚Kunst im öffentlichen Raum‘ ist allgegenwärtig – als würde die Addition zweier Tode ein Leben ergeben.“ (282) Schlussendlich wird Neuner nach seiner Lektüre und erhellenden Analyse des Stadtraums aber allzu bescheiden: „Das Buch hat kein Ende & viele leere oder zerrissene Seiten. Es ist nur ein Entwurf ins Unreine, der eher hingekritzelt als geschrieben wurde. Weg & Sprache verlaufen nebeneinander & treffen sich niemals.“
Möge es ähnlich beeindruckende Entwürfe geben, die Städte ins Lesbare übersetzen.