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Rückkehr nach Wien

Hilde Spiel

// Rezension von Michaela Schmitz

In Wien liegt meine Seele begraben…

Auch Heimat will gelernt sein – das ist die bitter-wehmütige Lektion für Hilde Spiel, als sie 1946 nach Wien reist. Zum ersten Mal kehrt sie heim, nachdem sie 1936 ins Londoner Exil flüchtete: als Kriegs-Korrespondentin des New Statesman und in britischer Militäruniform. Nun müsse sie alles von neuem lernen, erkennt die Fünfunddreißigjährige, überwältigt von der Übermacht des fremd Vertrauten: vom kalten, muffigen Steingeruch der Wiener Stiegenhäuser und jenem misstrauischen, unfreundlichen Lächeln, das vor den Nazis da gewesen ist und immer da sein wird. Es sei, als stehe man im Traum sich selbst gegenüber.

Heimat, das ist für Spiel „Die Zauberklingl“, ein Laden für Taschenspieler, den sie mitten in der zerbombten Stadt entdeckt. Sein Mozartischer Name habe schon ihre Kinderträume reizvoll durchläutet. Aber Heimat, das sind für sie auch Menschen wie die Hausmeisterin des ehemaligen Familien-Wohnhauses; frühere Nazis, deren Partei-Mitgliedschaft Spiel gleichgültig ist. In ihrer Kleinlichkeit und ihren Leiden erscheinen sie ihr „hoffnungslos und rührend, unlösbar und unerlöst“. Eine Diagnose aus großer analytischer Distanz. Denn Spiel will mit genauem phänomenologischen Blick eine messerscharfe Bestandsaufnahme der frühen Wiener Nachkriegsgesellschaft zeichnen.

Aber Hilde Spiels Reise in die Vergangenheit wird schneller als befürchtet zur schonungslosen Seelen-Inventur. Beim Besuch der ehemaligen Dienstmagd Marie entdeckt sie das gesamte Schlafzimmer-Mobiliar ihrer Eltern. In Annas Wohnung, der früheren Köchin der Großmutter, trifft sie auf weitere „Wahrzeichen ihrer Kindheit“ wie den Nähtisch und Reste des Meißener Kaffeeservices. Als Spiel schließlich zum Vorort Döbling fährt, wo in jeder Gasse Familiengeschichte geschrieben wurde, wird sie vollends von ihren Erinnerungen überwältigt. Auf dem Pfarrplatz stehend, bekennt sie: „Hier liegt meine Seele begraben.“

Trotzdem kämpft die Journalistin weiter um emotionale Unabhängigkeit zugunsten einer möglichst objektiven Berichterstattung. Im Trümmerfeld des zerstörten Wiener „Fasanenviertels“, dem Heimatbezirk ihrer Jugend, erinnert sie sich an „ihre eigenen Bomben“, die 1944 gegenüber ihres Londoner Hauses etliche Menschen töteten. Völlig unsentimental reagiert sie auf die Begegnung mit Oberkellner Hnatek, der Institution des Literatencafés „Herrenhof“. Nach erstem Schrecken, als hätte er sie „erst im Jenseits wieder erwartet“, beglückwünscht er die Autorin zu ihrem – gegenüber seinen eigenen leidvollen Wiener Kriegsjahren – erheblich freundlicheren Exilschicksal.

Spiel wird zwischen zwingender Erinnerung, ambivalenter Vertrautheit und Distanz hin und her gerissen. Trotzdem gelingt ihr ein sehr persönlicher, aber dennoch nicht einseitiger Bericht über ihre Rückkehr. Bewundernswert ist vor allem ihre Fähigkeit, zu urteilen, ohne zu verurteilen – obwohl sie als Jüdin zu den Opfern gehört.

Die bitter-süße Lehre von Spiels Rückkehr nach Wien ist: Keiner kann dem Entsetzen vor den „gründlich entzogenen“ Toten entkommen, die wie „eine stumme Karawane aus den Tiefen der Zeit“ an den Überlebenden vorüberziehen. Aber ebenso vermag niemand, unhintergehbare Heimatgefühle auszulöschen.

Im Winter 1946 ist schon der würzige Geruch der Holzscheiter in der Kärntner Schneeidylle für Hilde Spiel genug, um zwei Jahrzehnte auszulöschen; und mit einem Mal lägen alle Sommer ihrer Kindheit in einer unberührten Mulde der Zeit. Man geht eben niemals so ganz. 1963 ist für Hilde Spiel Zeit für ihre endgültige Rückkehr nach Wien.

Im jetzt neu aufgelegten Tagebuch kann man noch einmal nachlesen, warum diese, so Spiels eigene Worte, „unvermeidlich war.“

Hilde Spiel Rückkehr nach Wien. Ein Tagebuch.
Neuauflage des zuerst 1968 erschienen Werks.
Vorwort von Daniela Strigl.
Wien: Milena Verlag, 2009.
140 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-85286-177-7.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 10.06.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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