#Roman

rotten

Lydia Haider

// Rezension von Gerald Lind

rotten, Lydia Haiders zweiter Roman, schließt – so scheint es auf den ersten Blick – nahtlos an ihr außergewöhnliches Debüt „kongregation“ (2015) an. Wieder handelt es sich um einen düsteren Landroman mit grausamen Todesfällen in Serie, wieder ist das Buch durchwoben von christlich-mythologischen Bezügen und Symbolen, geschrieben in einer gleichzeitig sakral-feierlichen wie scheißdrauf-jugendlichen Sprache. Und wieder erzählt das Buch vom ewigen Konflikt zwischen jugendlichem Rebellentum und angepasstem Erwachsenenestablishment. Aber mit rotten geht Haider dennoch einen mutigen, entscheidenden Schritt weiter.

Waren schon in „kongregation“ die Grenzen zwischen gut und böse brüchig geworden, lösen sie sich in rotten nun vollständig auf, werden eindeutige Zuschreibungen von persönlicher Schuld und verdienter Sühne gänzlich unmöglich. Das gelingt Haider durch den bemerkenswerten Kunstgriff, einen symbolisch vielfältig aufgeladenen Ort, einen Gedächtnis- und Unrechtsort, der Vergangenheit und Zukunft der Region in seiner Umklammerung zu halten scheint, zur Hauptfigur zu machen. Es ist, so wird im Laufe des Romans im deutlicher, das KZ (oder der „Geist“ des KZs) – wenn auch nie beim Namen genannt, so ist doch jenes in Mauthausen gemeint –, das viele Jahre nach Kriegsende und der Befreiung durch die Allierten damit beginnt, sich wie ein ausgetrickster Todesengel in einem Hollywoodfilm zu holen, was ihm gehört.

Haider kombiniert diesen Einfall mit einem weiteren dramaturgisch gefinkelten Kniff: Die Jugendlichen aus dem Umland des ehemaligen Lagers, aus deren „Wir“-Perspektive die Geschichte erzählt wird, werden zu einer im Steinbruch beim KZ verborgenen Schriftrolle geführt, die eine Liste mit den Namen und exakten (zukünftigen) Sterbedaten der zur Sühne Auserwählten enthält: Es handelt sich dabei um Wirte aus der Region. Zentrale Figuren des Sozialsystems Land also, die – auch im Kontext der Nazi-Ideologie – mit einer mehrdeutigen Berufsbezeichnung behaftet sind: „Wir sind die Parasiten. […] Sie sind die Wirte.“ (13)

Die ganz am Anfang des Romans stehendn Entdeckung der Schriftrolle durch die Jugendlichen ist eine kompositorische Volte, die (auch) eine These des Buches verdeutlicht: Die Jugendlichen sind nicht frei, unbelastet, ganz gewöhnliche Teenager. Nein, sie sind Teil einer Geschichte – des Romans, und Teil der Geschichte – ihres Landstrichs, ihres Landes. Sie stehen und stecken, könnte man sagen, mit der Geschichte in einem Bund. Ihr neu gewonnenes Wissen ist deshalb nur die Konkretisierung einer durch ihre Herkunft aus einer KZ-Gegend bedingte Involviertheit und Determiniertheit:

Wir wollen uns klug machen, listig sein.
Wir wollen sein wie Gott.
Wir wollen allerlei grünes Kraut essen.
Und fruchtbar sein und mehren wollen wir uns auch.
Doch die Stimme des Bluts hier schreit zu uns.

(S. 20)

Während die Jugendlichen in den Gasthäusern sitzen, trinken, rauchen und den bizarren Unfällen der Wirte beiwohnen, beginnen sie, die Hintergründe des Geschehens zu erkennen: Die umkommenden Wirte stammen allesamt aus Familien, die sich direkt an den Greueltaten des KZ-Regimes beteiligt haben. Auf ihren Familien lastet Schuld und die Art ihres Todes – die Form ihrer ,Opferung‘ – korrespondiert mit der Beschaffenheit dieser Schuld. Doch die Jugendlichen können in dieser scheinbar urheberlosen, aber vom Motiv her eindeutigen Todesserie keine Gerechtigkeit erkennen: „Wer auch immer hier seine Rachefreuden haben will: Wir gönnen Sie ihm nicht. […] Die Todesstrafe ist hier abgeschafft.“ (43) Und Sippenhaftung – die in letzter Konsequenz jeden in der Region, auch sie selbst, treffen würde – lehnen sie ab: „Was kann denn der für seine Vorfahren. Was kann überhaupt jemand für das in seinen Adern.“ (45)

Es ist eine Besonderheit von Lydia Haiders Romanen, dass ihre einzelnen Teile nicht gänzlich auserzählt werden und also etwas Fragmentarisches an sich haben. Gerade wenn sich die Spannung verschärft, die Situation sich zuspitzt, bricht der Handlungsbogen ab. Im nächsten Abschnitt erfolgt alsdann eine Variation des Vorgängigen, eine fugenhafte Modulation der Leitmotivik, wieder mit relativ offenem Ausgang. In „rotten“ reflektiert dieses Konstruktionsprinzip auch die Serialität der Verstrickungen der einzelnen Figurengruppen und der ihnen Vorgängigen: Der Wirte mit ihren Tätereltern und -großeltern, der Neo-Nazis mit ihren mörderischen Idolen, der rebellischen Landjugendlichen mit ihren Duckmäuservorfahren. Dabei spiegelt die Verstrickung mit der Vergangenheit wie jene der Gruppen miteinander immer auch die moralische Ebene der eigenen Handlungsmaximen und Entscheidungen wider.

Die vom „Würgeengel“ (103) in den Bann geschlagenen Jugendlichen treffen schließlich, verfangen in moralischen Dilemmata und adoleszenter Lebenssehnsucht, eine radikale Entscheidung, deren geschichtsphilosophische und gedächtnispolitische Sprengkraft enorm ist. Sie versuchen aktiv aus einer Geschichte herauszukommen, in die sie nicht aus eigenen Stücken hineingekommen sind. Sie leisten Widerstand gegen eine Vergangenheit, die ihren dunklen Schatten über ihnen ausbreitet, ganz egal, wie sie zu ihr stehen. Sie starten einen Angriff auf jenen Ort, von dem alles auszugehen scheint. Sie unternehmen eine beispielslose Auslöschung.

Lydia Haiders rotten ist ein Romankunstwerk, das sich weder in erinnerungskulturellen Allgemeinplätzen noch in der Weltflucht avantgardistischen L’art pour l’arts verliert. Mit Mut und Virtuosität gelingt der Autorin die literarische Quadratur des Kreises, auf der politischen Ebene ebenso interessant und vielschichtig zu sein wie in den romanästhetischen Verfahren.

Lydia Haider rotten
Roman.
Salzburg, Wien: Müry Salzmann, 2016.
205 S.; geb.
ISBN 978-3-99014-138-0.

Rezension vom 15.09.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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