Aus dem Verlagstext zu Roter Affe zeichnet sich vor allem die Frage ab: Wer ist Roland K.? Über ihn erfährt man aber erst spät die ganze Wahrheit, er ist Teil dieses Puzzles, das sich über 240 Seiten aus Teilen wie Migration, Gewalt und Depression zusammensetzt. Statt Brylas Debüt mit einem Puzzle zu vergleichen, könnte man für die Geschichte aber auch einen ungewöhnlicheren Vergleich strapazieren: Vielleicht ähnelt sie ja einem indischen Dosa-Wrap, wie ihn die Protagonistin Mania am liebsten isst: Mit diversesten Gewürzen wie Sehnsucht, politischen Anliegen und einer Prise Drama, mit einer etwas überquellenden Fülle an Handlung und schließlich noch mit einer angenehm guten Schärfe durch starke Gefühle. All das sind die Zutaten für einen Debütroman irgendwo zwischen Wien, Berlin und Warschau, irgendwann in der nahen Vergangenheit.
Zwischen Depression und Suizid. Mania und Tomek sind einander eng verbunden, das äußert sich nicht zuletzt im Prolog, der ein kleiner Einblick in deren Kindheit ist. Als Mania Jahre später bereits als Therapeutin in der Strafvollzugsanstalt Berlin Insassen betreut, verschwindet Tomek plötzlich aus seiner Wohnung in Wien. Er hinterlässt Aufzeichnungen, aus denen hervorgeht, dass sein Verschwinden im Zusammenhang mit seiner neuen Liebe steht: Marina, die ihm der „Sturm herbeigetragen hat“, ist stark depressiv und alles deutet darauf hin, dass die beiden aufgebrochen sind, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. In grau unterlegten Passagen – den Notizen Tomeks – beschreibt Bryla knapp die ausweglose Geschichte Marinas, den verzweifelten Versuch Tomeks, ihr wieder hinauszuhelfen. Bei der Lektüre fragt man sich, was auch im „wahren“ Leben oft am schwierigsten zu verstehen ist: Woher nimmt Tomek all seine Hoffnung auf ein „happy end“? Mit viel Licht am Ende des Tunnels darf man bei der Autorin eher nicht rechnen, wie Andeutungen auf das große Finale in Polen verraten.
Die Depression ist bei Kaska Bryla zentral, sie ist gewissermaßen das Hauptmotiv, von dem aus die Handlung zu verstehen ist. Die Autorin beschreibt sie einfühlsam und durchwegs authentisch als einen langen Schatten, innerhalb dessen sich das Leben abspielt und der die eigentliche Wahrheit ist. Hat man das einmal erkannt, kann man es nicht mehr ungesehen machen: Dass das Leben „aus dem Kampf [besteht], sich selbst überzeugend genug zu belügen, die Glückshormone an die Oberfläche zu kitzeln, wenn nötig chemisch nachzuhelfen und jedem Jahr ein weiteres und noch eines folgen zu lassen.“ Der Zusammenhang zwischen Depression und Suizid wird hier deutlich dargestellt, und auch wenn Marinas Lebensgeschichte eher im Dunkeln bleibt, ahnt man, dass ausnahmslos alle Personen in diesem Buch große Päckchen mit sich herumzutragen haben. Auf dieser Basis kann Bryla auf der langen Autofahrt in den Osten schließlich auch die eine, entscheidende Frage stellen: Woher kommt das, was wir gemeinhin als das Böse bezeichnen?
Migration als Lebensrealität. Neben der Frage nach dem Bösen lässt Bryla auch Aspekte in ihr Buch miteinfließen, die aktueller nicht sein könnten. So ist etwa Migration wesentlicher Bestandteil der Leben aller Protagonist*innen. Dreh- und Angelpunkt ist Zahit: Er ist es auch, der Mania in Berlin alarmiert und ihr von Tomeks Verschwinden erzählt. Stück für Stück erfahren wir auch seine Geschichte. Er wurde von ihr im Zuge der Flüchtlingswelle 2015 über die Grenze gebracht und als sie gemeinsam vor Tomeks Tür in Wien standen, bekamen sie von diesem Einlass gewährt – während Mania wieder zurück nach Berlin reiste, blieb Zahit bei Tomek. Aus mehreren Szenen wird ersichtlich, dass Zahit nicht alleine sein kann, da dann alles Erlebte wieder in ihm aufsteigt und verheerende Folgen hat. Besonders spannend sind jene Momente in „Roter Affe“, in denen die Erzählperspektive beim jungen Syrer gebündelt ist. Was denkt er über diese andere Welt, in die er da hineingeraten ist? Bryla bringt bei Zahit überraschenderweise immer wieder auch Witz in die Thematik. Doch das Migrationsthema ist nicht allein auf Zahit konzentriert: Mania und Tomek haben beide polnische Wurzeln und verkörpern das Dilemma der zweiten Generation. Zwar verspüren sie große Sehnsucht nach dem Land, der Kultur ihrer Kindheit, doch geht damit immer auch ein gespaltenes Verhältnis zu dem Land ihrer Großeltern und Eltern einher. Und noch eine Variation des Migrationsthemas kennt der Roman. Ruth – Manias beste Freundin, die erfolgreich die Ortung von Tomeks Handy übernimmt – hat mit ihren jüdischen Wurzeln eine Migrationsgeschichte zu verarbeiten, die wohl nicht zufällig auf dem Roadtrip nach Warschau, wo sie Tomek vermuten, wieder zu brodeln beginnt.
Der Ursprung des Bösen. Alles in allem ist Roter Affe mehr als ambitioniert, ja sogar übermäßig ehrgeizig darin, Ursprünge und Auslöser des Bösen, generell die dunkle Seite des Lebens abzuhandeln. Das klingt nicht nur nach einem schwierigen Unterfangen, das ist auch beim Lesen spürbar drückend. Immer wieder hüpft der Roman, den großen Fragen zuliebe, ein wenig über Realität und Alltag hinweg und versucht zu ergründen: Was ist das Böse wirklich? Sind Insassen eines Gefängnisses von einer bösen Macht getrieben? Ist jemand, der im Leben keine Freude mehr sehen kann, vom Dunklen besessen? Dass Bryla, die selbst Kurse für kreatives Schreiben in Gefängnissen abhält, diese Fragen interessieren, verwundert kaum. Einmal fällt der Satz: „Das Böse gehört zum Hass und der Hass zur Liebe und die Liebe erzeugt Sehnsucht und Verlangen. Ich denke, dass Tomek recht hat. Für echten Sadismus bedarf es einer Menge an Einfühlungsvermögen, an Mitgefühl.“ Wird einmal Leid in die Welt gesetzt, lässt sich das schwer wieder tilgen. Gewalt und Vergewaltigungen aus blankem Hass sind in dieser Geschichte definitiv für den Schmerz verantwortlich.
Mit bestechender Aktualität hat Kaska Bryla ein an Themen übervolles, aber anregendes Debüt geschrieben, das den LeserInnen emotional einiges abverlangt. Doch darf nicht übersehen werden: Bei allen düsteren Seiten bahnt sich dennoch das Gute in Form von Liebe und Freundschaft seinen Weg – ganz wie im echten Leben auch.