#Sachbuch

Rosie in New York

Monika Helfer

// Rezension von Arno Rußegger

Ohne Zweifel bietet das vorliegende Bilderbuch (für Leserinnen und Leser ab 6 Jahren) mehr als eine Basislektion in Sachen New York; Monika Helfer und die Illustratorin Birgitta Heiskel haben ein wunderbar poetisches Werk geschaffen, in dem realistische und illusionistische Verfahren sowohl der Literatur als auch der bildendenden Kunst spielerisch ineinander greifen. Es geht also eher um eine Art Paul Auster für Kinder, und welch größeres Lob könnte es für Geschichten, die in Manhattan spielen, geben?

Mitten im ständigen Trubel und Wirrwarr der verschiedensten Realitätsräume und Sinneseindrücke erlebt ein kleines Mädchen, dass man sich erst verlieren muss, bevor man sich finden und anderen Menschen zuwenden kann. Rosie wird zunächst als ein zurückhaltendes Kind gezeichnet, das sich – wie viele seiner Geschlechtsgenossinnen – ein bisschen hässlich vorkommt, über jeden Pickel im Gesicht entrüstet und gerne an der älteren Schwester orientiert, die schon als Sechzehnjährige in einer Wohngemeinschaft lebt und einen farbigen Freund hat, der sie auf den Mund küsst. Doch Rosies besondere Sensibilität und Wahrnehmungsfähigkeit für bedeutende Details im gewohnten Alltag lassen die geschilderten Ereignisse im Lichte eines Bewusstseins erscheinen, das völlig unkorrumpiert ist von den üblichen ökonomischen und rassistischen Dünkeln. Das hat nichts mit Idyllisierung zu tun, denn das Vorhandensein von sozialen Ungerechtigkeiten und Gewalt in der amerikanischen Gesellschaft wird von Helfer keineswegs kaschiert. Wenn sie dennoch Augenblicke der Harmonie konstruiert, werden diese als ein Verdienst Rosies dargestellt, die einfach etwas tut, um ihr Inneres nach Außen wirksam werden zu lassen. So entwickelt sich das Mädchen im Laufe der Handlung zu einem wahren Helferlein, das fremden Personen in mehr oder weniger vertrackten Situationen beizustehen weiß.

Über sieben Einzelgeschichten/“Stories“ hinweg spinnt die Autorin die Erzählfäden, stellt bestimmte Einzelheiten in immer neue Kontexte und verknüpft sie miteinander. Unversehens, von einem Absatz zum anderen, die oft wie mit ‚harten‘ Film-Schnitten aneinander gereiht sind, verwandeln sich die Dinge. Nichts behält seine Gestalt. Wenn Rosie in ihrem Lieblingsbuch liest, wird sogar dessen Protagonistin namens Ruta für sie lebendig und zu jenem Beistand, den sie ihrerseits dauernd benötigt, um das Leben zu meistern. Ein weiteres Thema des Buches ist daher auch das Lesen selbst als eine phantasmatische Aktivität. Auf eine unaufdringlich kunstvolle Weise wird ein kleiner, ästhetisch fundierter Kosmos erkennbar innerhalb der großen Welt der Metropole, die auf den ersten Blick über keinerlei Orientierungsmuster verfügt. Deutlich wird auch, inwiefern Kinder – ungeachtet ihrer jeweiligen kulturellen oder religiösen Prägungen durch die Erwachsenen – sich darin ähneln, gleichzeitig ein subversives Element und eine Art Bindemittel der Gesellschaft zu sein, die ohne sie unweigerlich vollends zerbrechen würde.

Stilistisch haben die Erzählungen etwas von typisch amerikanischen short stories, ihrer Realistik und Märchenhaftigkeit, die alles fügt, ohne explikativ werden zu müssen. Monika Helfer nützt die gattungsspezifische Skizzenhaftigkeit der literarischen Darstellung für eine kindgerechte, eingängige Sprache. Herrlich lakonisch sind vor allem die Formulierungen der Dialoge, in denen ein paar Andeutungen genügen, um komplexe zwischenmenschliche Prozesse zu vergegenwärtigen.

Rosie in New York ist – alles in allem – ein Paradebeispiel dafür, dass es keine Grenzen zwischen Kinderliteratur und einer Literatur an sich gibt, wie gerade Kritiker in ihrer Ignoranz noch oft glauben machen. So bleibt zu hoffen, dass möglichst vielen erwachsenen Lesern wenigstens ein Alibi-Kind zum Vor- oder Gemeinsamlesen zur Verfügung steht, damit sie sich den Griff zu diesem Buch zugestehen mögen.

Monika Helfer Rosie in New York
Bilderbuch.
Illustrationen von Birgitta Heiskel.
St. Pölten, Wien, Linz: NP-Buchverlag, 2002.
48. S.; geb.
ISBN 3-85326-250-3.

Rezension vom 08.01.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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