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Roppongi

Josef Winkler

// Rezension von Martin Kubaczek

Den Ich-Erzähler erreicht die Mitteilung des Todes des neunundneunzigjährigen Vaters in Roppongi, einem reichen und pulsierenden Stadtteil Tokios mit hohem Ausländeranteil, während einer Lesereise in Japan. Japan wird damit zur Schnittstelle zwischen den beiden biographischen Erzählanteilen Indien und Kärnten, und Roppongi legt den Ort fest, von dem her Winkler ausgreift. Noch einmal rekapituliert er und beschreibt den Aufbruch nach Indien als einen Versuch, sich vom Vater und seinem Dorf zu lösen. Noch einmal wird ein Winklerscher Text am Unverständnis des Vaters motiviert, der fragt: „Was willst du denn in Indien? Was willst du in einem Land, wo sie die Kühe wie Heilige behandeln?“ (S. 27) Von Japan her lassen sich wie aus einer dritten, neutralen Position beide Prozesse erzählen und rekapitulieren: der des Aufbruchs (der hier mit Bildern der eigenen Geburt verbunden wird), und jener der Beobachtungen der Einäscherungen in Varanasi (die zu einer Einübung in das Abschiednehmen werden).

Dem Buch und jedem der einzelnen Textabschnitte vorangestellt findet sich jeweils ein Zitat aus den Narayamaliedern des japanischen Nachkriegsautors Shichiro Fukazawa. Diese Zitate begleiten mit ihren Bildern den Text und Winkler baut mit ihnen quasi eine zusätzliche Achsenfunktion auf, indem er einzelne dieser Bildelemente in den drei Kulturen vielschichtig verwebt und motivisch vernetzt. So wird etwa die Kärntner Dorfstruktur parallel gesetzt mit dem „Dorf gegenüber“ in der mythologischen Erzählung von Fukazawa, und wenn im Narayama-Text die Dorfbevölkerung auf das Sterben der alten O Rin drängt, so fragen bei Winkler die Nachbarn, ob denn der Vater mit seinem bald mythologischen Alter ewig so weiter leben würde. Solche Parallelisierungen finden sich motivisch und formal, rituell und mythologisch, ja sie reichen bis in sprachliche und lautliche Choreographien hinein, etwa wenn das Wort „klumpig“ zwei Mal im Text auftaucht: da, wenn der Sohn im 42. Stock des Park Hyatt Tokyo Hotels (S. 102) sitzt, „die kleine, vornehm klumpige grüne Pellegrino-Mineralwasserflasche“ vor sich am Tisch dreht, dort als „das kleine klumpige Gläschen mit dem aufgeklebten Enzian“ (S. 160), wenn der Vater am Sparherd in der Bauernküche sitzt und seinen selbstgebrannten Schnaps trinkt.

Erzähltechnisch wird dieses Gewebe aus Rhythmen, Lauten und Erinnerungen auf drei Ebenen geflochten, die wiederum drei Kulturen und Ethnien zugeordnet sind: die Kärntner Heimat in der imaginierten (Vor-) Erinnerung, die hinduistischen Bestattungsrituale in der Unmittelbarkeit der observierenden Beschreibung, das Japanische in der vermittelten Rezeption von Film und Lektüre (Lost in Translation, Narayamalieder). Winkler erstellt dabei einen ethnologischen Subtext, der dem Text seine untergründige Balance gibt und die scheinbar heterogenen Erzählelemente der elf Abschnitte nahtlos zusammenfügt, ohne auf irgendeine Qualität seiner bisherigen Schreibweisen zu verzichten: Die barocke Farbenpracht aus der Novelle Natura morta findet sich ebenso wieder (etwa im betörenden Bild der Gladiolen, die aufblühen im Sarg des Vaters; S. 99) wie die akribischen Beschreibungspassagen aus Domra oder das psychosoziale Schreiben über Kälberstrick, Selbstmorde und Kreuzform des Dorfes. Winkler montiert Textmaterial, fügt dokumentarische und essayistische Passagen mit statistischen und kulturhistorischen Referenzen ein, Thematisierungen der Schreibsituation und bereits literarisch verarbeitetes Material tauchen hier bis zum Selbstzitat wieder auf (etwa die Beobachtung der mit gelben Plastiktaschen vom Wiener Meinl-Supermarkt in Varanasi bettelnden österreichischen Hare-Krishna-Leute).

Die provokative Vehemenz der Anklage und das Rebellische früher Texte sind zwar beibehalten, zugleich werden aber auch ganz andere Töne angeschlagen: Überraschend wird der Vater anerkannt in seinen Fähigkeiten und in seiner Art, er wird gezeigt als einer, der stolz ist auf seine Kenntnisse und Fähigkeiten, auf die fast hundertjährige, schon ins Mythische reichende Präsenz in beständiger Arbeit, er wird sichtbar als einer, der immer auch eine Handvoll Blumen brachte von der Alm, der noch mit neunzig im Winter zur Holzarbeit im Wald geht und sich mit fünfundneunzig einen Traktor kauft. Zunehmend muss der diktatorische Großvater für kindheitliche Misshandlungen und Demütigungen herhalten, unter dessen patriarchalen Demütigungen leidet auch der Vater, der schließlich nur noch als Flehender gezeigt wird: „Sepp! Mach uns keine Schand!“ (S. 64) Heimlich ist dabei auch schon der Ferne Osten im Gewürzduft mit Zärtlichkeit verbunden, wenn es über den Vater heißt, „besonders sanft war er, wenn er, das löchrige Wärmepflaster auf dem Rücken“ trug, und dieses „roch nach einer Gewürzmischung, deren Aroma ich als Kind immer mit einer selten verschenkten Zärtlichkeit verband“. (S. 62)

Neben relativer Sanftheit zeigt Winkler aber auch neue Register von Spott, Komik, Ironie und Amüsement; Selbstironie wird zur Relativierung der eigenen Besessenheiten eingesetzt (wenn er etwa den Wiener Literaturprofessor Schmidt-Dengler zitiert mit der Empfehlung, doch Varanasi zu besuchen, weil er auf dem „Einäscherungsplatz (…) am besten aufgehoben“ sei; S.  31). Eine genial erzählte satiretaugliche Passage findet sich anlässlich der Frage „Reisen Sie rustikal“ bei einem Anruf im Tropeninstitut in Berlin, wo sich der Erzähler nach Impfungen für Indien erkundigt (S. 25ff). Deutlich wird in diesem Text auch der nahtlose Übergang von Realismus und Imagination im Schreiben Winklers in jenen Szenen, in denen das Begräbnis des Vaters drastisch bis ins kleinste Detail von jemandem berichtet wird, von dem wir wissen, dass er im Tokioter Bezirk Roppongi sitzt und das so nicht sehen kann: Der Ich-Erzähler imaginiert die Aufbahrung des Vaters, beschreibt so plastisch, als ob er davor stünde, „das tiefe Erdloch, in dem sich mehrere von den Spatenstichen halbierte Regenwürmer krümmten“ (S. 51) in einer vor-erlebten Vergangenheit. Die emphatische Beschreibung ist hier ein spekulatives Bild, das an die Kärntner Großmutter denken lässt, von der es hier heißt, sie spekuliere (S. 42): ein Wort, das mit Skepsis ebenso zusammenhängt wie mit gewagten Gedanken oder beschaulichem Sinnen, altertümlich als spähen, scharfes Hinsehen verstanden, oder auch einfach als Mutmaßen.

Zwischen diesen Polen arbeitet auch Winkler, und das wird in einigen Passagen sichtbar im Ausbrechen wüster Spekulation, etwa wenn zwei Dörfler sich mit der Kreissäge über den aufgebahrten Leichnam des Vaters hermachen und dabei Tabernakel, Leichnam, Sarg und Altar in Scheiben schnipseln (S. 55). Solche Exaltation warnt den Leser, als flüstere ihm der Erzähler im Binnenraum des Textes zu: Glaub mir, aber glaub mir nicht alles. Denn durch dieses imaginative Element wird auch die übrige Realitätsbeschreibung in Frage gestellt und die Literarizität des Textes bewusst gemacht. Der Winklersche Text vertieft hier die Wirklichkeit, profiliert sie bis in ihre innersten Elemente. Er verdichtet seine Sinnlichkeit und Farbigkeit, wie er gerade in seinen Bildern von Verfall und Vergänglichkeit im Umfeld des Todes die Intensität und den Triumph des Lebens hervorkehrt: Der Erzähler hat das letzte Wort gegenüber dem Toten, aber dieser Nachruf ist auch nur ein Verlust: „Mach’s gut, Vater … o. k. … ich wünsche dir eine gute Reise … o.k.!“ (S. 105)

Mit dem Tod des Vaters und der konzentrischen Entfernung vom Erzähldorf Kamering ist Winkler nach Rom, Neapel und Palermo, nach Varanasi in Indien nun in Japan am äußersten Rand seiner Kindheitsgeschichte angekommen, der Umschlagpunkt ist emotional wie bildlich evident. „Schwierigkeiten beim Verständnis der Narayama-Lieder“, heißt der zitierte Text Fukazawas mit seiner Mutter-Sohn-Geschichte, hier wird von den Schwierigkeiten im Verständnis zwischen Vater und Sohn erzählt und von alten Forderungen und Hoffnungen Abstand genommen zugunsten einer relativen Gelöstheit. Mit der Referenz auf die und der Präsenz der eigenen Kinder im Text wird auch ein voraus weisendes Element in den Erzählkontext eingeführt – Roppongi könnte sich von daher noch als Schnittstelle und Neuorientierung im Winklerschen Schreiben erweisen.

Roppongi. Requiem für einen Vater.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007.
163 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-518-41921-2.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 24.09.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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