Mit schön verwobenen und dichten Erzählsträngen ist Dietmar Krug die literarische Verflechtung dieser drei Leben gelungen. Am Romanende wirkt es, als wären die drei Charaktere eine einzige Person. Dietmar Krug erzählt mit schlichten Worten sehr viel. Das Eheleben der Eltern wird entblößt und hinter die Fassaden der Familien einer rheinischen Provinz der 60/70er Jahre geblickt. Die Dorfkultur ist durch scheinheilige Familiarität, böses Geschwätz und fromme Religiosität geprägt. So ist „Rissspuren“ nicht nur ein biografischer Roman, sondern auch ein Gesellschaftsroman.
Dietmar Krugs Prosa ist leichtfüßig und unaufgeregt, dabei angenehm weit entfernt von Theatralik und Kitsch. Sein harmonischer Erzählstil steht in ästhetischem Kontrast zum zerstörerischen Familienleben von Burkhard. Dieser Kontrast findet mit dem Selbstmordversuch seiner Mutter und ihrem Auffinden in einer massiv blutverschmierten Wohnung seinen Höhepunkt.
Der Roman „Rissspuren“ ist in elf Kapitel untergliedert, deren Überschriften nach Aufmerksamkeit schreien und unter anderen „Angst“, „Sex I, Sex II“ und „Tod“ heißen. Diese lautmalerischen Titel wirken für die Erzählung bzw. den sanften Erzählton zu hart.
Der kindliche Burkhard wird von einer großen Angst vor der Dunkelheit und dem Alleinsein geplagt. Diese Angstgefühle werden von den eigenen Eltern genährt. Die Unzulänglichkeit im Umgang mit ihrem Sohn äußert sich psychosomatisch in Burkhards nächtlichem Bettnässen. Die Mutter ist für ihn unnahbar, der Vater hingegen pflegt zuhause ein völlig apathisches Dasein. Dietmar Krug erzählt von dieser Dreiecksbeziehung zwischen Mutter-Vater-Sohn mit einer Intensität, die bei der Lektüre des Romans „Rissspuren“ beklemmende Gefühle erzeugt. Der Romantitel gefällt in diesem Zusammenhang. Sinnbildlich lassen sich die „Rissspuren“ auf Burkhards verletzte kindliche Seele übertragen. „Rissspuren“ trägt aber bereits das Fundament von Burkards Leben, nämlich das Elternhaus.
Burkhard kompensiert diese negativen Aspekte seines Lebens, nicht unklug, mit positiven Erlebnissen, wie der Freundschaft zum Nachbarsjungen, der ihm mehr Geborgenheit zu schenken vermag als seine Mutter. Die ersten Flirtversuche des jugendlichen Burkhard mit einem Mädchen namens Nascha verzücken bei der Romanlektüre. Dietmar Krug erzählt in seinem Roman „Rissspuren“ gleichsam von den schönen und den unschönen Lebensmomenten.
Die rheinische Mentalität und der rheinische Regiolekt spielen, wenn auch nicht wortwörtlich, eine wichtige Rolle, zumal Dietmar Krug selbst im Rheinland gebürtig ist. Werturteilsfrei erzählt er in seinem Roman Rissspuren von den Provinzlern und ihren weniger liebenswerten Eigenarten. So kauft sich die alkoholkranke Mutter eines Klassenkollegen von Burkhard im Lebensmittelgeschäft neuerdings zwei statt „nur“ einer Jägermeisterflasche. Überhaupt fließt viel Alkohol durch diese Provinz und einige Dorfbewohner scheinen nur davon ablassen zu können, indem sie sich einer Sekte anschließen. Dietmar Krug vermittelt dabei ein echtes Abbild der provinziellen Gesellschaft der 60/70er Jahre.
Entsprechend dem einfachen Leben der Romanfiguren ist der Sprachstil zurückhaltend und es gibt keine ausschweifenden Sätze und keine langen Dialoge. Aus der auktorialen Erzählperspektive wird nicht nur die Geschichte von Burkhard erzählt, sondern auch jene der Menschen, die ihn umgeben. Erzählzeit ist die Vergangenheit. In Burkhards Lektüre des „Bravo“ Magazins oder in seiner Begeisterung für die Comics „Superman“ und „Batman“ finden sich Spuren des damaligen Zeitgeistes.
Der Kontrast zwischen dem nach außen hin gediegenen Sprachton und der inneren (An-)Spannung, die sich im Laufe der Lektüre steigert und sich am Romanende glühend entlädt, ist Dietmar Krug literarisch kunstvoll gelungen. Auch für Leserinnen und Leser bedeutet der Roman Rissspuren eine Herausforderung, die unverzüglich angenommen werden sollte.