#Prosa
#Debüt

Riesendisteln beißen nicht

Laura Nussbaumer

// Rezension von Günter Vallaster

Laura Nußbaumer kann, wiewohl noch jung an Jahren, bereits ein vielseitiges und vielschichtiges Repertoire aus Literatur, bildender Kunst und transmedialer Poesie vorweisen: Eine zentrale Ausdrucksform sind dabei Blackout Poems, die dey nicht allein durch Einschwärzen von Textpassagen auf Buchseiten kreiert, sondern auch mit deren filigranen und expressiven Zeichnungen kombiniert.

2023 erschien mit Lichtschimmer laufen über ein erstes bibliophil gestaltetes Künstler:innenbuch mit deren gesammelter Blackout Poetry. Gemeinsam mit Sophie Lindenthal und Carmen Ramoser gibt dey zudem das Satiremagazin Die Zeitungsente heraus und nach einigen Publikationen von Lyrik und Prosa in Zeitschriften und Anthologien liegt nun mit Riesendisteln beißen nicht deren Romandebüt vor: Ein Jugend-, Entwicklungs- und Coming-of-Age-Roman, der ein neues und noch wenig beachtetes Thema in den Blickpunkt rückt, nämlich das „A“ in LGBTQIA+, die Asexualität, also das Nichtvorhandensein sexuellen Interesses, und zwar nicht aus pathologischen oder asketischen Gründen, sondern als normale Orientierung, Seinsweise und Identität.

Die wunderschöne bunte Riesendistel-Covergrafik von Laura Nußbaumer lädt dazu ein, Marlin, eine der beiden Hauptfiguren, auf dem sowohl dornig-struppigen als auch spielerisch aufblühenden Weg zu dieser Identitätsfindung zu begleiten, aus dem ländlichen Vorarlberg zum ersten Semester deren Psychologie- und Philosophiestudiums im großen, fernen Wien. Der Roman entfaltet Marlins Welt in siebzehn Kapiteln mit jeweils bis zu sieben Szenen mit Zwischenüberschriften, die an Tagebucheinträge oder Episodentitel einer Serie erinnern. Bemerkenswert ist die Erzählperspektive aus der Du-Form, ein sehr geschickter Kunstgriff der Autor:in: Oberflächenstrukturell vermittelt das „Du“ den Eindruck eines laufenden Selbstgesprächs oder Bewussteinsstroms. Doch dahinter verbirgt sich ein anderes „Ich“ als Erzählinstanz, nämlich Marlins imaginäre Freundin Louis(a), die Marlin abwesend-anwesend auf Schritt und Tritt begleitet, genau beobachtet, deren Denken, Fühlen und Handeln aufzeichnet und nur selten als „Ich“ in Erscheinung tritt. Letzteres sorgt aber für einiges an Situationskomik, etwa indem Louis(a) bei einer Mitfahrt im Auto nicht vergessen werden will, denn sonst könnte die Geschichte ja nicht weitererzählt werden.

Bereits auf der ersten Zugfahrt nach Wien trifft Marlin, benannt nach dem Schwertfisch, auf die zweite Hauptfigur, zu der dey sich sofort hingezogen fühlt und die dey geschlechtsneutral „Rotkehlchen“ nennt. Genau genommen ist das Rotkehlchen als Falkenmotiv, also als leitmotivisches Symbol, schon ganz am Beginn des Romans präsent: „Vom Strauch vor dem Küchenfenster tropft alter Regen, und ein Vogel hüpft von Ast zu Ast.“ (S. 5). In der Folge trifft Marlin das Rotkehlchen an verschiedenen Orten wieder, wobei es immer wieder gleich entschwindet, sozusagen fortflattert und sich an die vorangegangenen Begegnungen nicht erinnern kann. Die Orte sind durchwegs enge oder beengende Nicht-Orte als Durchgangsstationen zur erhofften Ankunft im Leben: Vorarlberg aus dem Zug ist mit „Regen. / Wolken. / Tunnel. / Dämmerung. / Tunnel. / Licht. / Tunnel“ (S. 8) konzis zusammengefasst.

Wien besteht im Wesentlichen aus einer ersten Übergangsbleibe, finsteren Gängen, Fahrstühlen, Hörsälen, Seminarräumen und einem ersten unmöblierten WG-Zimmer mit Blick auf den Innenhof. Auch das später zu Ferienzeiten besuchte elterliche Domizil des Rotkehlchens in Vorarlberg ist in „Finsternis … [ge]wickelt, als hätte jemand die Fenster schwarz angemalt“ (S. 114), bei Marlins Mutter liegt dey „auf dem Sofa im abgedunkelten Wohnzimmer“ (S. 134). Im Prinzip wirkt der Roman wie ein großes Blackout Poem, eine Blackout Novel. Dem entspricht, dass Laura Nußbaumer für deren Blackout Poems auch Seiten aus deren Roman verwendet.

Vor diesem tiefschwarzen Hintergrund heben sich Marlins Gedankenwelt und die Dialoge mit deren wenigen Kontaktpersonen, zu denen vor allem die ersten Mitbewohner:innen Demet und Leonie sowie Fabia und Haruka, einige Nachhilfeschüler:innen und immer mehr das Rotkehlchen und deren familiäres Umfeld zählen, noch umso leuchtender ab. Nicht von ungefähr stellt sich das Rotkehlchen in einem finsteren Kinosaal mit hoch aufragender dunkler Leinwand, in dem „nicht einmal die Trailer und die Werbung beginnen“ (S. 42) Marlin erstmals namentlich vor: „Ich bin Robin“ (ebd.). Und dann ist da auch noch Marlins besorgte Mutter, die überkommenen heteronormativen Vorstellungen verhaftet ist und häufig an deren Strippe hängt.

Marlins einzige und unschöne Begegnungen mit Männern sind ein „Typ“ (S. 38) in der Mensa, der dey mit queerfeindlichen und patriarchalischen Beleidigungen „volllabert“ (S. 39) und vom Essen abhält und ein „Typ“ (S. 125) mit Bierkiste, der dey gleich umarmen will. Ein nicht unerheblicher Teil von Marlins Kommunikation spielt sich über Mailboxen und Chatfenster ab: Es wird getextet, nicht nur gesprochen. Die einschließlich Tippfehlern und Emojis wiedergegebenen Chatverläufe zwischen Marlin und dem Rotkehlchen vermitteln sehr eindringlich die emotionale Dynamik derer Annäherung.

Weitere Textblöcke wie verschiedene Infomails der Uni, aber auch Wohnungsanzeigen und Mobilboxnachrichten sind als Montage direkt in den Roman integriert, wodurch sie als erdrückende Textwände und virtuelle Nicht-Orte hervortreten, die Marlin u. a. im Gedicht „Briefkasten-Klage“ (S. 63) mit drastischen Worten zum Ausdruck bringt: „Wie eine Gestrandete / sitze ich neben dem erschlagenen Briefkasten (…)“ (ebd.).

Während Marlin die Außenwelt kaum und wenn, dann distanziert und dokumentarisch wahrnimmt, indem dey Graffiti des Sprayers KING fotografisch sammelt, werden die Innenräume sehr detailliert und mit spannungsvollen Bild- und Klangverschränkungen beschrieben. Dabei spielen verschiedene Brett- und Gesellschaftsspiele wie Mensch ärgere dich nicht, Activity Crime oder Schach eine tragende Rolle: „Auf G7 bis H7 steht eine Packung mit Trockenfutter, daneben ein Teller Kekse, etwas, das aussieht wie eine selbst gebastelte Tonschale, und eine Lesebrille.“ (S. 71)

Marlins Achterbahnfahrt der Gefühle wird von einer realen Achterbahn auf einem Rummelplatz getragen. Auch der Geräuschkulisse wird viel Aufmerksamkeit geschenkt, beispielsweise dem „Grollen“ (S. 105) der Waschmaschine, dem „Klacken von Reißverschlüssen, die immer wieder von der Drehtrommel gegen das Glasauge scheppern“ (ebd.). Akustische Detaileindrücke dieser Art wirken dramaturgisch sehr effektiv und verleihen dem Roman einen eingängigen Soundtrack. Mit „whhhhiiiiiiiiiiieeepfBUUUM“ (S. 28) zischen die Feuerwerksraketen der ersten Silvesterparty in Wien, auf der sich Marlin sehr verloren fühlt, onomatopoetisch in die Luft. Montage, Onomatopoesie, mitreißende Dialogkaskaden – wirkungsvolle Stilmittel, die auch an den Ulysses von James Joyce erinnern.

Im Verhältnis von Marlin und Robin erweist sich Robin als der zunehmend aktivere Part, was in erster Linie Marlins Prüfungsstress, Erkrankung eingeschlossen, aber auch deren Unsicherheit geschuldet ist. Formen der Queerness wie Homosexualität, Allosexualität, Demisexualität, Asexualität, Aromantik und auch die platonische Liebe werden diskutiert. Schließlich stellt Robin Marlin die Frage der Fragen: „Gehst du am Samstag zur Pride?“ (S. 95), die Marlin nach einigen Vertippern mit „ok“ (S. 96) beantwortet. Dort trägt Robin „ein Regenbogen-Cape, eine Schildkappe, deren Schild an der Unterseite ein Regenbogen ist, und ein gelb-weiß-lila-schwarz gestreiftes Shirt. Die Farben der Nichtbinären-Flagge“ (S. 100).
Laut gängigen Definitionen wie etwa im Queer Lexikon steht Gelb für Menschen mit Geschlecht außerhalb der binären Norm, Weiß für Menschen mit vielen oder allen Geschlechtern, Lila für Menschen, deren Geschlecht eine Mischung aus männlich und weiblich ist und Schwarz ist für jene, die sich keinem Geschlecht zuordnen können oder ohne Geschlecht sind.

Schwarz, Weiß – „Ein plötzliches“ (S. 221) und sonst nur Weißraum auf der Schlussseite – und nicht zuletzt Gelb ziehen sich als häufigste Farben und damit leitmotivisch durch den gesamten Roman. Gelb ist meist mit Marlin verbunden: Dey überfährt „die wichtigen Stellen im Prüfungsstoff mit gelbem Marker“ (S. 93), trägt eine gelbe Jacke (S. 120), möchte auf der Pride nur einen gelben Shake trinken. Aber auch Robin hat am Beginn einen „gelben Rollkoffer“ (S. 7, „das gleiche Gelb […], das schlüpft, wenn du ein Ei aufschlägst“ (ebd.)), der am Schluss als „dottergelber Reisekoffer“ (S. 207) wieder an deren Seite ist. Lila ist die Blütenfarbe der Riesendistel, die – gemeinhin als Unkraut verschrien – in Wirklichkeit eine sehr nützliche und schöne Blume ist.

Wie sich die Beziehungen zwischen Marlin und Robin sowie Marlin und deren Mutter letztlich weiterentwickeln und was es mit der Riesendistel, die gegen Ende des Romans auftaucht, auf sich hat, sei an dieser Stelle nicht gespoilert, aber sehr zur Lektüre empfohlen. Verraten sei nur, dass Marlin und Robin gegen Ende ein Graffito von KING mit einem Stencil, also Schablonengraffito und natürlich in gelben Lettern übersprühen: „WEG MIT HETERONORMATIVITÄT“ (S. 207). Mit Riesendisteln beißen nicht ist Laura Nußbaumer ein beeindruckender Debütroman gelungen, der – randvoll mit wichtigen Überlegungen und Statements – sehr anregend zu lesen ist.

Günter Vallaster, geboren in Schruns, lebt in Wien. Autor und seit 2004 Herausgeber der edition ch. Zuletzt: Jukebox. Mit Zeichnungen von Fritz Widhalm und Ilse Kilic (Das fröhliche Wohnzimmer – wohnzimmers buntes lyrikheft 11, 2016) und als Herausgeber die Anthologie Schriftlinien. Transmediale Poesie (edition ch, 2021). https://guenter-vallaster.net/

Laura Nussbaumer: Riesendisteln
Roman.
Wien: edition fabrik transit, 2023.
210 S.; brosch.
ISBN 978-3-903267-51-0.

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Rezension vom 27.10.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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