#Sachbuch

Richter und Zeuge

Edit Kovács

// Rezension von Kurt Bartsch

Das Bild Thomas Bernhards in der Öffentlichkeit ist geprägt von dessen unverwechselbarer Rhetorik, von Absolutheitsanspruch erhebenden, erbarmungslos vernichtenden Urteilen, die er nicht nur seinen fiktiven Gestalten in den Mund gelegt, vielmehr in gleicher Weise selbst in Interviews und Preisreden gefällt hat, Urteile, die – so jedenfalls der Eindruck – Mitmenschen, Orte, Länder, Institutionen wahllos betreffen, die sich aber eben auch durch den genannten Absolutheitsanspruch, durch Widersprüche und das Verwischen der Grenzen von Figuren- und Autorrede selbst ad absurdum zu führen scheinen. Dem spürt die vorliegende Studie nach.

Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob juridischer und literaturkritischer Diskurs, die sich im Falle Bernhards immer wieder überschneiden, vergleichbar sind und ob jemand überhaupt als Richter bezeichnet werden kann, der von vornherein alles verurteilt. Ein Richterspruch setzt Abwägen voraus, die Gültigkeit einer Zeugenaussage bedarf der Überprüfbarkeit – beides erfüllt Thomas Bernhard weder in seinen fiktionalen und in den vorgeblich autobiographischen Texten noch in seinen Reden etc. Deshalb versteht Kovács „Richter“ und „Zeuge“ als Metaphern, bezeichnet die „forcierte Ungerechtigkeit“ in den Aussagen des Autors als „Allegorie“ der Unmöglichkeit von Vorurteilslosigkeit und führt diese zurück auf Bernhards Gefühl des Ausgeliefertseins, der – mit Georg Lukács gesprochen – „transzendentalen Obdachlosigkeit“ und Rettungslosigkeit. Daher auch begegnet die Verfasserin der bisherigen Rezeption, wiewohl ihrerseits gewissenhaft abwägend, doch mit Skepsis, insofern Bernhards juridische Diktion häufig biographisch, nämlich von seiner Tätigkeit als Gerichtsberichterstatter abgeleitet, oder einer k.u.k.-Tradition zugeordnet wurde und wird. Vielmehr sieht Kovács die Bernhardsche Verfahrensweise dem Dekonstruktivismus eines Jacques Derrida und Paul de Man nahestehend.

Die – wie es die Verfasserin nennt – „forensische Lektüre“ bietet sich durchaus an, wobei bekanntlich Texte von Thomas Bernhard (Die Ursache, Holzfällen) ihrerseits tatsächlich zum Fall für Gerichte wurden und die grundsätzliche Frage aufwarfen, ob die inkriminierten Werke als Kunstwerke anzusehen sind oder nicht. Die Verwechslung von Autor und literarischen Figuren kennzeichnet ja nicht nur den juridischen, sondern auch den literaturkritischen Diskurs, von dem im Falle von Holzfällen ja das juridische Verfahren ausgelöst wurde. Dazu hat allerdings der Autor seinerseits beigetragen, insofern er dem Vorschub leistet durch sein Spielen mit dem „autobiographischen Pakt“ (Lejeune), der als Grundbedingung die Möglichkeit einer „Wahrheitsprobe“, einer empirischen Überprüfung erfordert. Indem sich der Gerichtsprozess im Fall Bernhards allerdings auf eine solche einlässt, sieht sie Kovács geradezu zur „Parodie“ von Wahrheitssuche werden. Bernhard baut rhetorisch Fallen auf, in die Literaturkritik und Rechtssprechung (zum Teil wohl auch die Literaturwissenschaft) getappt sind.

Ein zentrales Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie gilt dem Wie des Erzählens von Urteilen im Werk Bernhards. Sie geht dieser Frage am Beispiel des Romans Holzfällen (1984) nach. Dieser trägt ja nicht nur als Untertitel und quasi Gattungsangabe die Bezeichnung „Eine Erregung“, sondern sorgte tatsächlich durch seine (literarischen) „Urteile“ für gehörige Erregung und ein juridisches Nachspiel, glaubten sich doch in den literarischen Figuren reale Personen wieder erkennen zu können. (In diesem Zusammenhang wäre eine kleine Richtigstellung angebracht: Bernhard hat in Österreich nicht den Verkauf, sondern kurioserweise nur die Auslieferung des Romans kurzzeitig verboten, was man durchaus auch als Marketing-Gag verstehen könnte.)

Kovács hebt als Besonderheiten des Romans die durchgehende Sprache der „Erregung“ hervor, die alle Gestalten des Textes (nicht nur den Erzähler) auszeichnet und die Figur der Umkehrung („Perversion“), die die gesamte Narration dominiert, und schließt die „Fiktion des entscheidenden Moments“ ein, die ja wiederum in fast allen Werken Bernhards von dramaturgischer Bedeutung erscheint. Bemerkenswert ist, dass die Urteile in Holzfällen alle Besucher des leitmotivisch als unerträglich beschworenen (und doch vom Erzähler trotz des erwarteten Desasters nicht versäumten oder wenigstens vorzeitig verlassenen) „sogenannten künstlerischen Abendessens in der Genzgasse“ treffen, den Erzähler, wie gesagt, mit eingeschlossen, auf den schließlich auch alle seine Urteile über die anderen Personen zurückfallen. Der Erzähler wird als Richterfigur grundsätzlich in Frage gestellt, allein schon durch die räumliche Positionierung, dadurch, dass er sich denjenigen, über die er ein Urteil zu fällen sich anmaßt, nicht konfrontiert, wie in Gerichtsverfahren üblich, vielmehr von hinten den Blick auf die von vornherein Verurteilten richtet. Da dem Richter keine verbindlichen Normen zur Verfügung stehen, werden alle seine Urteile erkennbar als Vorurteile und als ungerecht (sprachlich durch absolute Superlative indiziert). Der vom Roman dargestellte Verurteilungsprozess erweist sich als unabgeschlossen/unabschließbar, eingefangen in der Kreisstruktur, dem Im-Kreis-Denken, Im-Kreis-Sprechen und schließlich im finalen Im-Kreis-Gehen/-Laufen durch die Wiener Innenstadt im Anschluss an das Abendessen. Der Roman, der von der Thematisierung des absoluten Insistierens auf Wahrheit ausgeht, wird so zum Ausdruck der Unmöglichkeit von Wahrheitsfindung, die juridische Lesart problematisch, das Lektüreangebot, den Text als Zeugen zu verstehen, unterlaufen.

Bernhards drei Jahre vor Holzfällen erschienener autobiographischer Roman Die Kälte. Eine Isolation stimmt in der Darstellung der Unmöglichkeit, Wahrheit sprachlich zu fassen, ja nachgerade in der Gleichsetzung von Wahrheit und Lüge mit dem späteren Roman überein. Kovács interessiert an diesem Text besonders die ihm immanente Bewegung zwischen Bezeugen und Zeugung: ein biographisches Problem Bernhards, nämlich der Bezeugungsversuch von etwas, das sich nicht bezeugen lässt, nämlich die eigene Zeugung (Anmerkung: für die Banalität, dass der Vater immer unsicher ist, bedürfte es wohl nicht der Berufung auf Derrida). Da der Name des Vaters in der Familie Thomas Bernhards als Tabu galt und die Bezeugung des Erzeugers für den Autor unmöglich war, sah dieser die Zeugung als „Verbrechen“ an und verstand, so gesehen folgerichtig, die Welt als „Zuchthaus“ und das Leben als „Strafvollzug“. Letztlich erkennt Kovács in allen Texten Bernhards die Thematisierung der genealogischen Frage. Und aus genau diesem Zusammenhang speist sich die Auffassung des Autors von der Unmöglichkeit der Wahrheitsfindung. Jede Wahrheitsbezeugung erweist sich ihm als Lüge.

Bernhard treibt in den Prosatexten, in denen er dem Leser, der Leserin einen „autobiographischen Pakt“ anbietet, wie in Die Kälte, durchaus auch ein kalkuliertes Verwirrspiel mit Daten, so mit dem „falschen“ Zeitpunkt des Todes seines verehrten Großvaters Johannes Freumbichler. In seinem autobiographischen Roman entwirft der Autor wiederum die „Fiktion eines entscheidenden Moments“, ja der Entscheidung seiner Jugendjahre schlechthin, nämlich den Kampf gegen seine lebensbedrohliche Krankheit aufzunehmen und stellvertretend für den Großvater weiterzuleben. Es handelt sich hierbei um die literarische Stilisierung eines bestimmten als lebensbestimmend verstandenen Augenblicks, die die Frage nach dem nachweisbaren genauen Datum des Ablebens von Johannes Freumbichler irrelevant erscheinen lässt.

Kovács gelingt es in ihrer Studie, in das vom Autor Thomas Bernhard inszenierte Durcheinander von Autor- und Figurenrede, das seine Fortsetzung findet im sekundären Diskurs der Literaturkritik und Literaturwissenschaft wie auch in juridischen Auseinandersetzungen, Klarheit zu bringen, sich nicht anstecken zu lassen von „Erregungen“ für oder wider den Autor, vielmehr sachlich distanziert zu urteilen. Sie fügt sich würdig ein in die ambitionierte Reihe der „Österreich-Studien Szeged“, in der sie nach drei Sammelbänden zu umfassenden kulturwissenschaftlichen Themen und den Akten einer Ingeborg Bachmann-Tagung mit einer ersten monographischen Arbeit zu einem herausragenden österreichischen Autor auch einen neuen Akzent setzt.

Edit Kovács Richter und Zeuge
(Österreich-Studien Szeged. 5).
Wien: Praesens, 2009.
133 S.; brosch.
ISBN 3-7069-0482-7.

Rezension vom 14.01.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.