#Essay

Reisen und Gespenster

Thomas Stangl

// Rezension von Bernhard Oberreither

Literatur, das ist wider Erwarten ein oft recht gefährliches Unterfangen. Es kann nämlich passieren, dass irgendwann (oder war das immer schon so?) die Bücher – aber auch: die Bilder, die Musik – mit dem Leben untrennbar verwoben sind. Diese Fäden sind es, denen Thomas Stangl (zuletzt: „Was kommt“, 2009) in seinem neuen Essayband Reisen und Gespenster nachspürt. Dort versammelt er Reise- und Leseberichte, Tagebucheintragungen und Erzählungen aus fast zwanzig Jahren, und dennoch wie aus einem Guss: Die Rede ist von Literatur, von Sprache als dem Medium des Erlebens, des Erinnerns und Vergegenwärtigens, aber auch von der unüberwindbaren Grenze zwischen Schreiben und Leben, Sprache und Welt, von der Abwesenheit dort, wo die Sprache hinzeigt.

Schon der erste Essay zeigt dabei die Mischung aus Zurückhaltung und Virtuosität, die Stangl entwickelt, wenn es darum geht, die fragilsten Mechanismen des Erinnerns, des Träumens vor dem Leser erstehen zu lassen – was hier abstrakt und schwer zugänglich sein könnte, passt tatsächlich sofort wie ein Handschuh. Von Literatur als Rückzugsort ist die Rede, als Ort der Trennung von Sprache und Welt, wo Wörter nur noch sich selbst gehören und alle Brücken nach draußen abbrechen. Das sind Themen von existenzieller Spannweite; auch und gerade am heimischen Schreibtisch kann man ans Äußerste gehen. „Vielleicht ist die finstere Wahrheit:“ – so beschreibt das der Autor – „alles sollte hineingezogen werden in den Text und dort zunichtegemacht. Ich übe eine leise Gewalt aus, die mich doch nie ganz ersticken und die doch nie wirklich anderes treffen konnte.“

Im Schreiben lässt sich ein Außen immer nur andeuten; ebenso dringt von dort alles nur durch Sprache gefiltert zu uns. Das erfährt in einem luziden Reiseessay der zivilisationsmüde und drogenkranke Schriftsteller Antonin Artaud, dem Stangl physisch und literarisch durch die Reservate Mexikos folgt: „Mexiko, das war für Artaud der Name für eine große Erwartung, die Phantasmagorie eines Landes als das real gewordene Andere.“ Die ersehnte paradiesische Einheit von Welt und Wahrnehmung entpuppt sich als nicht so einfach zu haben. Auch Stangl, der diese Reise sechzig Jahre später nachvollzieht, hat seine unabschüttelbare Kultur im Gepäck: „Creel ist für mich eine Stadt aus einem Western (aber es geschieht nichts), die umgeben ist von steingewordenen Sätzen aus den Texten Antonin Artauds und aus den Beschreibungen der Reiseführer, die ich gelesen habe. Ich weiß nicht, was ich hier sehen würde, hätte ich diese Texte nicht gelesen.“
Ein plötzliches Durchstoßens des kulturellen Panzers, eine Sprache, um den Dingen wirklich nahe zu kommen: Das geht wohl nur über einen Umweg, muss im Leser angestoßen, evoziert werden: Einen Spaziergang durch eine wolkenverhangene Gegend in Tirol beschreibt Stangl vorderhand recht unauffällig; und doch so präzise und eindringlich, dass man ihn unwillkürlich für eine eigene Erinnerung hält. Zwei Essays später wird er genau das am Amerikaner Cormack McCarthy bewundern: „Je schlichter und detaillierter die Beschreibung, desto intensiver ist sie; die Imagination entsteht aus der Genauigkeit.“
Der robuste McCarthy bleibt ein Einzelfall: Die Mehrzahl der Autoren, denen Stangl auf ihren literarisch-existenziellen Grenzerkundungen folgt, ist von der Sorte, die sich an besagten Grenzen ziemlich bald verheizt hat: der schon genannte Artaud, natürlich Proust und Kafka, dann Raymond Roussell, ein Vorläufer der Surrealisten, der sich 1933 das Leben nimmt, und Bernward Vesper, der sich am rechten Elternhaus aufreibt und in der Psychiatrie endet. Zu diesen literarischen Schaubildern gesellen sich die Eckpfeiler von linker und poststrukturalistischer Gesellschafts- und Kulturtheorie, von Semiotik und Psychoanalyse. Stangls Texte sind von ihnen getränkt (wie Löschpapier), ohne aber jemals das zu werden, was man „akademisch“ nennt: Da überholt schon mal ein mexikanischer Andenkenstand den Marx’schen Warencharakter, einfach weil die blinkende, glitzernde Fülle dort nur erschlagen, nicht mehr verkauft werden kann. Angesichts mumifizierter Menschenopfer schlägt auch das ansonsten undurchdringliche Zeichensystem leck: „Ich frage mich, ob das das Zeichen sein kann, das die Götter verlangen, oder ob hier nicht die Perfektion dieser Ordnung aufbricht, das in Wahrheit Unintegrierbare sichtbar wird.“

Das Ganze ist zwar mehr als eine Poetik – da sind nämlich genauso großartige Erzählungen vom Reisen, durch Städte, Musik, Bilder (etwa ein Museumsbesuch in Lissabon) – aber es ist eben auch eine Poetik, vorwärts wie rückwärts: „Die Erzählung, das ist das erste. Der Aufbau einer Kontinuität, integrieren, was ihr Widerstand leistet. Dann die Erfahrung, man bricht ab, gibt auf, fängt an zu sehen.“ Stangl zeigt uns die Rückseite des Schreibens als die Rückseite der Erfahrung selbst, die Schwierigkeit, sich durch das immer schon (sprachlich) vorgeprägte Schauen hindurch etwas zu eigen und dennoch zu Sprache zu machen.
Wenn Schreiben und Lesen auch ihre Opfer verlangen – vielleicht bieten sie nicht bloß einen privilegierten, sondern den einzigen Zugang zur Welt. „Vielleicht lerne, lernte ich gerade auch über die Literatur außerhalb der Literatur, aber nie ganz, zu leben und zu sterben.“ Stangl weckt die Gier nach beidem, nach Literatur und Welt, nach Erfahrung und Erinnerung. „Außerhalb der Literatur, aber nie ganz“: Zu bedauern, wer mit beiden Beinen bloß im Leben steht.
Abschließend dann – scheinbar separat – ein Text, der alte Menschen beim Sterben in einem Heim beobachtet. Während hier das senile, verdämmernde Sprechen noch einmal demonstriert, was auch einem Autor an den genannten Grenzen immer droht – Bezuglosigkeit nämlich, das Verlernen der Sprachspiele – wird der Erzähler plötzlich erkannt: „Sie sind ja ein Gespenst!“, ruft eine Greisin. Natürlich ist er das – ist das doch bloß seine Erinnerung.

Thomas Stangl Reisen und Gespenster
Essayband.
Graz, Wien: Droschl, 2012.
240 S.; geb.
ISBN 978-3-85420-791-7.

Rezension vom 21.06.2012

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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