#Roman

Reise zum Mittelpunkt des Herzens

Ludwig Fels

// Rezension von Martin Kubaczek

Zitternd, filigran und verletzbar, so setzt dieses kammermusikalische kleine Epos ein damit, dass Tom mit Hilfe seiner Frau Linda das Spital verlässt: „Jetzt wird alles gut“, sagt er. „Ja“, sagte sie, „alles wird gut!“ Aber dann sagt sie auch: „Erschrick nicht, draußen scheint die Sonne, die Vögel singen, und wie! Du hältst es nicht aus“ (S. 7), und langsam erschließt sich ein Szenario in Bildern und Dialogen: Tom hat die Diagonose Gliobastom (S. 45) – nicht mehr operierbarer Gehirntumor im letzten Stadium, er wird zum Sterben nach Hause entlassen.

Zurückhaltend, wie der Text gegenüber diesen Fakten vorgeht und wie sparsam er hier verfährt, auf Erklärungen zu den Fachbegriffen verzichtet zugunsten einfacher Unmittelbarkeit der Erwähnung: In einem Kästchen am Bauch hat Tom eine Morphiumpumpe installiert, die ihm auf Knopfdruck bei Schmerzen eine Dosis verabreicht, die zwar den Schmerz weglöscht, zugleich aber Wahrnehmungsstörungen hervorruft, die im Text in kurzen surrealen Passagen kursiv gesetzt sind und die Fieberphantasien Toms von Partikeln seiner Wahrnehmungsrealität ununterscheidbar machen: Ist Dr. Olsen nun tatsächlich im Raum, also auf Hausvisite gekommen, in diesem sprunghaften Oszillieren von Wahrnehmung und Phantasieren, oder nicht?

Gnadenlos verortet Fels Toms Verfall in einem aufblühenden Frühlingsszenario. Heißt es in einem Song von Blood Sweat & Tears: „And when I’m dead, and when I’m gone, there will be one child born in this world to carry on“, ist es bei Fels allerdings ein Gorillababy, das geboren wird, während Tom im Sterben liegt, und so kommt der leicht aufgedrehte Freund, der Fotograf Jack, nicht zur geplanten Abholung ins Spital, weil er zum Zoo muss, um das neugeborene Affenbaby zu fotografieren. Tiere sind mehrfach präsent im Text: Zuerst die schillernde Schmeißfliege, dann der Schmetterling, der mit ihr ins Toms Zimmer geflattert kommt, der immerzu bellende Nachbarhund, der vor der Garage den Schmetterling in der Luft zerfetzt, das Reh, das Jack nach dem Picknick auf der Insel mit seinem Wagen zusammenfährt: Verletzlichkeit und Flüchtigkeit von Leben zeigt sich auch in diesen Bildern. Ein weiteres textkonstitutives Element ist das Spiegelmotiv, das im Todesprozess den Verlust eines simplen Selbstbildes erkennbar macht: Tom sieht sich wie hinter einem „Wasserfall aus Milch“, oder hinter einem „Film aus Eis“, er kann sich nicht mehr unbefangen wahrnehmen und fragt – ironisch oder in Realitätsverlust? – ob Linda die Spiegel höher gehängt habe(S. 122)

Fels hat die Geschichte so angesetzt, dass sie nicht konkret lokalisierbar ist. Etliche Attribute lassen rückschließen auf Geographien: Der Picknickplatz auf der Insel hat ein mediterranes Flair, von den Namen her könnte die Geschichte in den USA spielen: Cazzanelli und Kinnard die Nachbarn, Olsen der Arzt, das ist klassische italienisch/ irisch/ skandinavische Immigrantenmischung, dazu mit Tom, Linda, Jack Namen wie aus der Soap Opera; unvorstellbar aber für das gepflegte Nebeneinander in den U.S.A., dass man Bücher nach dem bellenden Hund des Nachbarn wirft, der wiederum sein Geschäft regelmäßig in Nachbargaragen verrichtet – undenkbares „Trespassing“ in Mittelstands-Neighbourhoods, sondern eher mitteleuropäische Vorstadtidylle. So konkret die Insel beschrieben ist, auf die Linda und Jack den kranken Tom zum Picknicken bringen, so wenig wird sie konkret verankert: Einmal liegt sie am Meer, wenn sie mit Autofähre, Hafen, Serpentinenstraße, Wald, Kloster und Meteoritenkrater skizziert ist, dann wieder wird sie, für eine Flussinsel etwas überdimensioniert, in einem „Delta“ lokalisiert; das wäre nicht wesentlich, entstünde durch diese Unschärfe nicht ein eigentümliches Flirren im Realismus der Bilder.

Dieser Text wäre eine einzige große Abschiedskadenz, gäbe es da nicht dieses protestierende Aufbäumen des Todkranken, das sich in einem ganz eigensinnigen Gefühl ballt, nämlich als veritable Eifersucht. Dem Freund Jack und seiner Frau Linda unterstellt Tom Absichten über seinen Tod hinaus, er projiziert in sie sein nochmals aktiviertes Misstrauen, eine Kraft, mit der er sich gewissermaßen störrisch ins Leben zurück krallt. Was seiner Umgebung dabei nicht gelingt, ist ihre Betroffenheit anzuerkennen: Alle drei Figuren – Toms Frau Linda, der Freund Jack und der Arzt Olsen – sind bis zum Äußersten bemüht, auch wenn ihnen immer wieder die Tränen kommen, business as usual vorzutäuschen, und Tom kämpft geradezu wütend gegen die Fassade einer Normalität an, die die anderen mühsam aufrecht erhalten. Gerade in ihrem pragmatischen Optimismus, einfach das Beste aus der Situation zu machen und das Leben noch so gut als möglich zu leben, von gewissen Einschränkungen abgesehen, wittert der geschwächte Tom die Verschwörung, die ihn zu zynischen Verbalausritten und mutwilligen Verletzungen antreibt, im unterbewussten Verdacht, dass sein kommender Tod für die anderen längst hingenommenes Faktum ist.

Fels lieferte noch nie Beschwichtigungsliteratur, sondern beharrt auf dem Anspruch auf wahrnehmbare Authentizität, gemäß seiner Vorgabe, „Wahrhaftigkeit bedeute, sich als Schriftsteller beim Schreiben in Bereiche vorzuwagen, dort, wo es weh tut durchzustoßen“. Mit seiner Mischung aus Sexualphantasien, Sinnlichkeit, Gewalt und Zerstörung in den Romanen „Bleeding Heart“ (1993) und „Mister Joe“ (1997) in einer Sprache voll Passion, Selbstzerstörung und Leidenschaft hatte Fels in den Neunzigerjahren Kritik und Leserschaft geschockt. Dem Prinzip einer Literatur der Härte und Schmerzhaftigkeit ist Fels treu geblieben, aber hier arbeitet er mit leiser Ironie und dem Spiel von Doppeldeutigkeiten, die vor allem in ihrer punktgenauen Ökonomie beeindrucken: Nichts ist da zu viel, es wird mit einer fast schon auf den Grundwortschatz der Existenz reduzierten Sprache erzählt vom Lieben in Zeiten des Todes. Mit der „Reise zum Mittelpunkt des Herzens“ gelang Fels eine dunkle, intensive, schmerzlich-schöne, in ihrer Lebensgier nochmals aufleuchtende – und verglimmende Geschichte.

Ludwig Fels Reise zum Mittelpunkt des Herzens
Roman.
Salzburg: Jung und Jung, 2006.
159 S.; geb.
ISBN 3-902497-05-X.

Rezension vom 25.04.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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