#Sachbuch

Reinschrift des Lebens

Klaus Kastberger

// Rezension von Sabine Zelger

Zuallererst handelt es sich beim vorliegenden Buch um die Präsentation einer Mayröcker`schen Prosaarbeit, die jede Etappe des Textes bis zur Reinschrift mit allen Korrekturen in anschaulicher Form zugänglich macht. Diese umfangreichen Editionen bekunden eindrucksvoll nicht nur die Arbeitswut und Beharrlichkeit einer der wichtigsten österreichischen AutorInnen, sondern wohl auch des Germanisten und Herausgebers. Allerdings bedarf diese gründlich aufbereitete Textmasse eines Wegweisers, den Buchautor Kastberger in der vorangestellten Dokumentation der genetischen Reise liefert.

 

Zugleich lässt sich die „Reinschrift“ auch als stufenförmige Annäherung an ein Methodenmodell lesen, die das Buch quasi zu einer kritischen Einführung in Literaturtheorie macht. Schließlich werden deren wichtige Ansätze an der Aufgabe bemessen, der eigenwilligen Ästhetik des Romans „Reise durch die Nacht“ beizukommen, und ihr Scheitern daran wird explizit. Schritt für Schritt werden Ausblendungen und Verengungen der wissenschaftlichen Programme sichtbar gemacht und die Notwendigkeit einer Methodik herausgearbeitet, die die schriftstellerischen Prozesse von der ersten Notiz bis zur Druckvorlage nachvollzieht.

Während etwa die „Theorie des Experiments“ von der Intuition im Schaffensprozess absieht, so fehlt bei der Theorie der „Autopoesie“ die systematisierende Kopfarbeit der Schriftstellerin, weil sie sich nicht bloß dem Diktat der Sprache unterwerfen kann, sondern auch zu selektieren hat und als Autorin ganz und gar nicht zum Verschwinden gebracht wird. Demzufolge können beide Ansätze radikaler Poesie, wie sie Friederike Mayröcker herstellt, nicht gerecht werden, deren Schreibprozess stets durch beides, durch „Disziplin und Exstase“ vorangetrieben wird.

Dort, wo dann die philologische Analyse beginnt, „wenn die Schreibende sich selbst liest“, verweist der Autor bei den Konstruktivisten auf die zweifelhafte monopolistische Aufwertung der Variante und fordert bei Jan Mukarovskys Methodik eine Richtungsänderung, ja dialektische Wechselwirkung: Denn nicht der Stil würde die Variante steuern, sondern auch umgekehrt beeinflusse die Variante den Stil. An diesem Punkt angekommen ist der „Variantenforscher“ freilich manchmal dazu verleitet, über die jeweiligen Bewusstheitsgrade der Schreibenden Vermutungen anzustellen. Weit über diese hinaus zeigt der Forscher dann aber in wissenschaftlich nachprüfbaren linguistischen und thematischen Strukturen den Weg zu jenem Formengesetz, das nach Adorno die moderne Kunst herstelle, „indem sie ihre Genese verzehrt.“ Diesem Verzehr, der bei Mayröcker geradezu von Heißhunger angetrieben wird, geht Klaus Kastberger mühevoll und behutsam in Einzelstellenanalysen nach. Dieses Unternehmen führt mitten in die charmante Sprachwelt Mayröckers, in deren Urwüchsigkeit von Sprache, die ständig sowohl Zucht als auch Wachstum erfährt. Mit Wiedergaben verschiedener Stufendetails werden diese beiden Prozesse, das Anwachsenlassen und Zurechtstutzen nicht nur anschaulich gemacht. An ihnen wird auch das, was in Mayröckers bestechenden Schreibarbeiten auf den ersten Blick bloß willkürlich zu passieren scheint, der Aus-, Rück- und Umbau der Textstellen, auf der Mikro- und Makroebene überprüfbar und deutbar gemacht.

Die Anlagerung von Textelementen kann sich auf phonetische und lexikalische Ähnlichkeiten, auf die metrische Struktur stützen, und solcherart Vorstufen verändern, die dem leeren Blatt in Mayröckers Schreibmaschine jeweils vorgezeichnet sind. Zusätzlich werden bestimmende grammatische Subjekte entfernt und durch andere ersetzt: Was Francisco Goya erlebte, passiert plötzlich dem erzählenden Ich; wo vorher eine männliche dritte Person gesessen hat, findet sich plötzlich die schreibende Ich-Figur vor: im „flammenden Autobus“. Durch derartige Tilgungen und Ersetzungen entstehe, wie Kastberger verdeutlicht, Verdichtung auch auf der inhaltlichen Ebene, die oft einer identifikatorischen Bewegung gleichkommt. Grundsätzlich werden – ganz nach Roman Jakobsons Modell – statt logischen Zusammenhängen strukturelle Äquivalenzen bevorzugt, die allerdings erst über das etappenweise Fortschreiten der Arbeit entwickelt werden und auch nur dort nachvollziehbar sind, zudem sie auch im Endstadium keine „Vervollständigung“ erfahren.

Auf der Makroebene, bei den thematischen und metaphorischen Verknüpfungen, kommen zu guter letzt noch die Dekonstruktivisten zum Zug, um den „narrativen Skandal“, wie er mit R. Barthes genannt werden kann, erklärbar zu machen. Und auch der gründet, wie Kastberger zeigt, in der Arbeit am Text, die „dem Text als dynamisches Prinzip eingeschrieben“ ist.

Als je klärender sich aber die Methodik für Mayröckers Ästhetik erweist, desto fragwürdiger wird zugleich die nackte Lektüre des Suhrkamp-Bandes. Gerade weil auf verschiedenen Ebenen die konstitutive Funktion des Textprozesses und der Entwicklungsstufen herausgearbeitet wird, spricht Kastberger indirekt dem Leser, der Leserin der Endfassung eine angemessene Lektüremöglichkeit ab. Nur dem Archivar oder demjenigen, der sich Zutritt zum Archiv verschafft, kann sich der Text in seiner Komplexität erschließen. Wenn Mayröcker etwa aus einer paradigmatischen Reihe das Ausgangsnomen entfernt, bleibt der Zusammenhang, aber auch die Funktion der Passage unzugänglich und macht bei der Lektüre nicht bloß „am ehesten Schwierigkeiten“, wie Kastberger etwas euphemistisch formuliert.

Ähnliche Defizite ergeben sich beim Leseprozess, wenn es um die Verarbeitung der Quellen geht, respektive um Leben und Werk Goyas, die Mayröcker nicht nur oft unausgewiesen lässt, sondern daraus geradezu „ein Netzwerk von Ähnlichkeiten zwischen Quellen und Text“ entwickelt. Dass aber spekulative Fähigkeiten bei unbedarftem Leser und Leserin auch gewinnbringender sein können als etwa ein flottes Quellenstudium, belegt Kastberger anhand einer Publikation von Lisa Kahn. Die simple identifikatorische Interpretation, in der die alternde Autorin den jungen hübschen Frauen aus Goyas Bildern nachträumt, verdeckt eine Vielzahl anderer Deutungen, ganz abgesehen davon, dass Mayröcker nach dieser Interpretationslogik auch den Wunsch verspüren müsste, sich in Jungmänner, den Maler Goya, ja selbst in die (gemalten) Esel zu verwandeln.

Insofern Klaus Kastberger konstatiert, dass die Untersuchung des Textes „zu einer Untersuchung der mit diesem Tun notwendigerweise verbundenen Lebensform gerät“, wird eine zweite Labilität, Abhängigkeit oder auch Offenheit des Endprodukts ersichtlich. Nicht nur die verschiedenen Stufen – und damit die Recherche im Österreichischen Literaturarchiv – sondern auch, wie in diesem Fall, Labor und Laborantin zwischen September 1982 und Oktober 1983 müssten in den Lektüreprozess eingehen. Warum auch nicht? Die germanistische und zugleich editorische Tätigkeit, bei der diese Arbeit besorgt wird, erfahren dadurch eine große Aufwertung, die auch den LeserInnen zugute kommt. Denn was sie zutage zu fördern imstande sind, legt Klaus Kastberger eindrücklich vor.

Die Lektüre seiner „Reinschrift“ vermag die Lektüre der „Reise durch die Nacht“ und sicher auch andere Texte derselben Autorin noch produktiver zu machen. Bei den zauberhaften Leseprozessen, die Mayröcker-Lesern (dieser Terminus scheint inzwischen legitimiert) nach wie vor gesichert sind, wird durch die Lektüre der genetische Analyse manches Verklärte klar. Für die literaturwissenschaftliche Untersuchung von Texten anderer AutorInnen ist das methodische Modell, wie es Klaus Kastberger vorstellt, sicher wieder neu zu adaptieren und in manchen Ausrichtungen möglicherweise obsolet. Ein Standard wurde hier aber vorgelegt.

Sabine Zelger
19. März 2001

Klaus Kastberger Reinschrift des Lebens
Friederike Mayröckers „Reise durch die Nacht“. Edition und Analyse.
Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2000.
470 S.; brosch.
ISBN 3-205-99174-5.

Rezension vom 19.03.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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