#Roman
#Debüt

Reibungsverluste

Mascha Dabic

// Rezension von Alexander Kluy

Natürlich ist Nora an diesem Morgen zu spät dran. Wie so oft. Und wie so oft, nein: wie an jedem Morgen denkt Nora, sie müsste endlich, endlich die Bücherstapel und Bücherhaufen ordnen, die sich durch ihre kleine Wohnung in Wien ziehen und sich wie kleine Monster zu vervielfachen scheinen. „Wie Gremlins, dachte Nora und zog sich die Decke über den Kopf, wie sie es als Kind getan hatte, während ihr älterer Bruder fasziniert den kleinen weißen Kuschelmonstern beim unkontrollierten Vermehren zugeschaut hatte.“

Bereits dieser Satz, der fünfte auf der allerersten Seite von Reibungsverluste, des ansprechenden, unterhaltsam intelligenten Debütromans von Mascha Dabic, verweist, so leicht er auch daherzukommen scheint, auf untergründige Schrecken, auf Monster, die unter der Oberfläche lauern. Unter der Oberfläche eines Tages. Denn erzählt wird von rund 15 Stunden aus dem Leben Noras, einer Dolmetscherin, die an diesem Wochentag in einer psychotherapeutischen Einrichtung für Flüchtlinge und Asylbewerber tätig ist. Der Erzählbogen setzt mit dem morgendlichen Aufstehen ein und endet mit der abendlichen Rückkehr in die Wohnung, dem Aufgeben des Vorsatzes, drei Monate mit dem Lesen auszusetzen – sie greift dann doch zu einem Buch, zu Yasunari Kawabatas „Ein Kirschbaum im Winter“ –, dem Ausschalten der Leselampe am Bett und dem letzten Gedanken dieses Tages, dass vielleicht die Lektüre der letzte sichere Ort sei, doch nein: „Es gibt keinen sicheren Ort. Nirgends.“ fällt sie sich gleich selber ins Wort.
Natürlich ist die chronisch Unpünktliche auch an diesem Tag zu spät zur Arbeit gekommen. Sie hat das Glück, dass die erste Stunde eine so genannte Wartestunde ist, eine bezahlte Pause also für sie. Dann folgen mehrere Analysesitzungen der Psychotherapeutin Roswitha mit weiblichen Flüchtlingen und einem Tschetschenen, bei denen Nora als Dolmetscherin aus dem Russischen fungiert. Sie muss auch einen komprimierten Bericht für die Vereinten Nationen aufsetzen, der wie so viele andere nach Genf geschickt werden soll, damit die Subventionierung der Einrichtung legitimiert und weiterhin gesichert ist.
Mittags schüttet die sympathisch chaotische Nora der einfühlsamen Sekretärin Erika ihr Herz aus, was ihr einerseits kompliziertes, andererseits asketisches emotionales Leben angeht. Sie berichtet vom Russen Vladimir, in den sie sich in ihren zweieinhalb Jahren in St. Petersburg verliebte, als sie dort für das deutsche Goethe-Institut tätig war, und der sie ganz offensichtlich auf seinen Dienstreisen hinterging, den sie ihrerseits dann mit einem englischen Maler betrog, der sich nun für einen Besuch angekündigt hat, mit dem sie aber auch schon so gut wie abgeschlossen hat.
Dann folgen weitere Sitzungen mit Flüchtlingen, ihre Geschichten, Fallanalysen und ein ausfallender Termin, weil die Asylwerberin am Tag zuvor nach Polen abgeschoben wurde, was Therapeutin, Sekretärin und Nora kurz vor Arbeitsschluss gleichermaßen erschüttert.

Mascha Dabic, im Alter von elf Jahren mit ihrer Familie aus Sarajevo nach Österreich übersiedelt, weiß, wovon sie so einnehmend erzählt. Sie hat selbst Übersetzungswissenschaften, Englisch und Russisch studiert. Sie hat journalistisch über das Thema Migration geschrieben. Sie ist als Dolmetscherin im Asyl- wie im Konferenzbereich tätig und wurde insgesamt viermal vom Bundeskanzleramt mit einer Übersetzungsprämie gekürt, zudem lehrt sie als Dozentin an den Universitäten in Wien und Innsbruck.
Dass sie ihrer überwältigenden Protagonistin Nora noch den sprechenden Nachnamen „Kant“ mit auf den Weg gibt, hätte nicht zwangsläufig sein müssen – auch wenn diese einmal auf die Härte und Blockhaftigkeit ihres Namens zu sprechen kommt und dabei die geistesgeschichtlich-philosophische Verbindung ironisch ausgeblendet wird. Der Königsberger Philosoph schrieb 1784 in seinem Essay „Was ist Aufklärung?“: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“
Mit leichter Hand, psychologisch eindringlich und dramaturgisch vollkommen schlüssig führt Dabic vor, dass das Private politisch ist, wie sehr das Politische privat ist und dass bewegende, bedrängende Einzelschicksale die globalen Erschütterungen, Krisen, Konflikte und die Traumata der Gegenwart abbilden. Wie sehr diese Bereiche oszillieren und etwas ergeben, das Leben heißt, in dem es vor allem auf Sprache ankommt: genaue und niemals herabsetzende Sprache. Und auf intelligente Einfühlung. Genau alldies ist es, was diesen Debutroman auszeichnet.

Von Mascha Dabic erscheint nahezu zeitgleich die Übersetzung des zwischen Titos Jugoslawien und der Gegenwart angesiedelten Erinnerungsromans „Jeder muss doch irgendwo sein“ des Serben Dragan Velikic.

Mascha Dabic Reibungsverluste
Roman.
Wien: Edition Atelier, 2017.
152 S.; geb.
ISBN 978-3-903005-26-6.

 

Rezension vom 27.02.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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