Wien im Jahr 2000, als „eine Rasse von braungebrannten strahlenden Siegertypen unter der Führung von zwei bösartigen Gnomen die Macht übernommen [hat]“. Donnerstagsdemos. Eine junge Frau (Andrea Stanek), die „nicht mehr vor ihrem Leben in die Politik flüchten [und] auch nicht vor der Politik in ihr eigenes Leben flüchten [kann]“, und die nach dem Tod des Vaters (später auch durch Monas Tod) Leere, Hilflosigkeit und Wut fühlt. Es ist „als wollte sie durchs Fotografieren den Moment aufhalten, nicht festhalten, sondern aufhalten“. Den Tod der Schwester aufhalten. Die durch Monas Tod entstandene Leere versucht sie auszufüllen, indem sie in die Haut der anderen zu schlüpfen versucht. (Sie „geht an Monas Stelle, lebt an Monas Stelle“.) Die Anglistikstudentin wird zur Tänzerin/Choreografin.
Mona, die jüngere Schwester, nimmt sich aus der Gesellschaft heraus und fragt sich, ob sie überhaupt wach sein will. („Sie ist dreckig, verschwitzt, rein; niemand kann sie berühren.“) Sie lässt sich treiben, streift umher, von Kneipen in fremde Betten, aber nichts vermag ihre innere Leere ausfüllen bis „[s]ie sich [selbst] zum Verschwinden [bringt]“.
Es sind Momentaufnahmen aus dem Leben dreier Personen, deren Geschichten Thomas Stangl in Regeln des Tanzes „elegant und schattenhaft“ langsam zu einer Choreografie entwickelt. Anfänglich teilen die drei nichts als den Ort, die Stadt miteinander. Sie durchstreifen Wien zu unterschiedlichen Zeiten, jeder für sich, jeder in seiner eigenen Welt, seinen eigenen Gedanken. Alle drei haben etwas verloren: die Schwester, die Illusionen und das Leben, die Frau. Sie teilen die Einsamkeit, die Leere. Als wäre um jede von ihnen eine „Wand aus Glas“ („aber um dich war diese Wand aus Glas“). Sie suchen nach dem Sinn und finden immer wieder nur das bedrückende Gefühl von Leere und Einsamkeit.
Drei Menschen auf der Suche nach sich selbst. Nach „eine[r] Wahrheit, die eine andere Wahrheit aus den Angeln hebt“. Mona findet die Antwort in ihrem Tod. Ihre Schwester nicht in der Politik, nicht im Wiederstand. „Sie sagt, sie wolle glauben oder müsse jedenfalls darauf setzen, dass Tanzen wirklich heißen könne: die Regeln der Gesellschaft hinter sich lassen. Völlig anderen Regeln folgen.“
„Ich lobe den Tanz, denn er befreit den Menschen von der Schwere der Dinge, bindet den Vereinzelten zur Gemeinschaft“ – sagt Augustin. Auch Andrea Stanek hat in der Begegnung mit Walter Steiner „vielleicht zum ersten Mal seit ihrer Kindheit, wieder das Gefühl, mit jemandem über dieselben Dinge zu sprechen“; und „dieser Mann hat sich auf irgendeine Art und Weise in die Geschichte geschlichen, in ihr Leben geschlichen (wenn man das ihr Leben nennen möchte).“
Die Begegnung von Walter und Andrea resultiert nicht nur in einer vorübergehenden Gemeinschaft, sondern vielleicht auch in einem Ausblick auf die Möglichkeit, den Schmerz, den sie in sich tragen, zu überwinden.
Alles ist ein ständiges Grübeln, Spüren, Zweifeln. Gedankenverlorene innere Monologe mit gekonnten „Verdoppelungen und Verzögerungen“ – sprachlich wie bildlich. Stangl konkretisiert in Klammern. Behauptet und stellt im gleichen Atemzug in Frage. Rückt Bilder zurecht. Verschiebt Bedeutungen oder kehrt sie um und lässt vieles offen. „Es kommt nur auf den richtigen Blick an.“
„Alles ist eine Frage des Rhythmus“, und diesen beherrscht Stangl meisterhaft. Drei Personen, drei Körper, drei Solochoreografien, die einander, ohne sich zu berühren, immer wieder begegnen („Jede Begegnung ist ein Eingang zu einem anderen Leben“), einander immer näher kommen und sich schließlich in einen merkwürdigen, fulminanten Tanz auf der Bühne verwandeln. (Aber auch „die Bühne ist das Gefängnis, das du nicht verlassen kannst, ein immer enger werdendes Gefängnis.“) Lebensgeschichten, Politik, Kunst und Visualität verdichten sich zu einer unauflösbaren Einheit. Aber eigentlich „kann man gut auch niemand sein, in diesem Tanz, diesem harmonischen Durcheinander“.
Als hätte Stangl in seinem neuen Roman immer wieder Augustin zitiert: „Tanzen ist Verwandlung, Raum und Zeit.“ Oder auch die Fähigkeit, „durch Wände zu gehen“.