Die beiden Perspektiven, die im Verlauf des Romans zunehmend wichtig werden, sind die in der Gegenwart verankerten Sichtweisen von Nelli, Rechermachers Enkelin, und ihrer erwachsenen Tochter Maia. Nelli macht sich eines Tages unangekündigt auf den Weg, um der nebulösen Gestalt des Großvaters (und der Großmutter Vevi) an unterschiedlichen Orten auf den Grund zu gehen. Maia, von dem plötzlichen Verschwinden ihrer Mutter vor den Kopf gestoßen, macht sich nun ihrerseits auf Spurensuche – im Archiv. Sie findet Zeitzeugen, Gefängnisschreiber, Richter und Dichter, die etwas über Rechermacher oder die Umstände und Kontexte seines Lebens zu berichten haben und fordert die Archivalien auf, ihre Geheimnisse preiszugeben: „Zeitzeuge rede“ (S. 123), heißt es da etwa. Die Archivfunde sind allerdings verstörend und enttäuschend zugleich. Enttäuschend, weil sie die Person August Rechermachers nicht näher bringen, sondern nur die Distanz betonen, verstörend, weil sich herausstellt, dass Rechermacher – „ein Meister des Gehorsams, willig wie ein Wallach“ (S. 139) – als Mitglied der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg zum Täter wurde. So wird der Wunsch nach Nähe plötzlich abstoßend: „August will ich nun nicht mehr August nennen, August Rechermacher soll er heißen, besser nur Rechermacher, ihn nicht mehr rufen beim Vornamen. Ich wünsche mir keine Briefe oder Postkarten mehr von ihm, will ihn nicht mehr kennenlernen. […] Mein Wollen oder Nichtwollen ist aber belanglos.“ (S. 154) Was man einmal weiß, kann man nicht mehr nicht wissen.
Nach Staubzunge (2015) und Schwedenreiter (2018) ist Rechermacher der dritte Teil von Sukares Trilogie der Suche. Einer Suche, die nicht zurückgenommen werden kann, wenn sie etwas zu Tage fördert, was man vielleicht nicht finden wollte. August Rechermacher, wie ihn etwa Nelli imaginiert, „schaut mir nicht in die Augen, hält den Blick gesenkt zu Boden oder in sich hineinschauend“ (S. 122). Erst die Suche, das störrische Nachbohren und unablässige Fragen seiner Enkelin und Urenkelin, zwingt die Figur zurückzuschauen, sich zu offenbaren, und weicht dabei ab von dem Bild, das sich seine Nachfahren zurecht gezimmert haben. Während Maia sich im Archiv auf die Suche nach ihrem Urgroßvater macht, also versucht, sich am wenigen Faktischen zu orientieren, das zu finden ist, ist Nellies Suche von ihrer Imagination geprägt. Die Vermutung, dass man sich einer Person kaum über Fakten nähern kann, dass man so höchstens ihre Umrisse bestimmen kann, veranlasst sie in ihren Notizen zur „Erfindung des August“ und sie erlaubt sich dabei immer „mehr Freiheit“ (S. 121). Auch über die Großmutter Vevi ist nur wenig herauszufinden, auch sie muss in der Vorstellung erschaffen werden: „Ich werde sie mir wieder und wieder erfinden müssen, bis sie mir vielleicht eines Tages gleichgültig geworden sein wird.“ (S. 174)
Erinnerung, Imagination, familiäre Überlieferung wie familiäres Schweigen und Stimmen aus dem Archiv vermischen sich in Rechermacher zu einer unaufgeregten Erzählung, die durch die unverschnörkelte, manchmal fast distanzierte Sprache nichts an Eindringlichkeit einbüßt – im Gegenteil: Umso erfahrbarer wird das Ringen um Nähe, das nicht nur das Verhältnis zu Rechermacher prägt, sondern auch jenes von Nelli zu ihrem Vater, Rechermachers Sohn, oder die Beziehung von Nelli zu ihrer Tochter Maia.
Die Geschichte über die Suche nach August Rechermacher ist, wie die besten Familiengeschichten, eine Geschichte darüber, wo man selbst im Familiengefüge steht, wie nahe man seinen Vorfahren kommen kann (oder will), wie man als Nachgeborene mit der Vergangenheit umgehen kann und wie man sie zu sich selbst in Bezug setzt. Es ist eine Geschichte von der Ambivalenz des Suchens und Findens, eine Geschichte vom Aushalten: Aushalten, dass man weiß und dass man nicht weiß.