Reben heißt das Debüt der 1976 in Spielfeld geborenen Autorin, die nach einem Germanistik- und Sprachwissenschaftsstudium als Journalistin und freie Autorin in Graz lebt und für ihre bisherige literarische Produktion den Manuskripte – Literaturförderungspreis, das Literaturstipendium des Landes Steiermark und das Staatsstipendium für Literatur 2006/07 erhielt. Sie hat sich für ihren Erstling ein Thema ausgesucht, das so gar nicht im Trend der Fräuleinliteraturthemen „eigene verpfuschte Jugend“ oder „Liebe in Zeiten der Globalisierung“ à la Zoë Jenny, Alexa Hennig von Lange oder Judith Herrmann liegt. Andrea Stift widmet sich einem Stoff, der weit weg von ihrer Lebenswelt scheint und ihr doch sehr nah ist: das Leben ihrer Urgroßmutter Anna Stift, die als Bürgermeistergemahlin und Weinbergbesitzerin die Zügel des Familienbetriebs fest in der Hand hielt.
Anna Stift wird zu Monarchiezeiten in der Untersteiermark, in Gonobitz, dem heutigen slowenischen Konjice geboren. Die Kindheit ist entbehrungsreich und überschattet von einem trinkenden, gewalttätigen Vater und den strengen Regeln der Klosterschule. Nach der Schule hat sie keine Vorstellung von ihrem Leben außer dem „idealistische(n) Konvolut von Haus, Mann und Kindern“. Dieser Wunsch geht auch bald in Erfüllung. Durch die Hochzeit mit dem vermögenden Herrn Carl, einem Stammkunden im Lokal, in dem sie kellnert, beginnt der soziale Aufstieg der Urgroßmutter. Sie nimmt das Stiftsche Anwesen in Straß in ihre resoluten Hände und regiert mit Hausverstand und Temperament. „Die Gnädige“ verlangt mit Handkuss begrüßt zu werden, „watscht“ schon einmal zur Strafe einen unfolgsamen Arbeiter ab, der sich dafür auch noch artig bedankt. Unliebsame Schwiegertöchter weist sie in die Schranken und ihren eigenen Vater, als er abgebrannt daherkommt, außer Hauses.
Sie geht einen für eine Frau zu ihrer Zeit ungewöhnlich zielstrebigen Weg. Allein bewirtschaftet sie den Weinberg, den sie bei der Hochzeit als „Morgengabe“ erhält, und bringt das Anwesen und ihre Familie einigermaßen unbeschadet durch zwei Weltkriege. Gesellig und sehr trinkfest für eine Frau schafft sie es, die slowenischen Besatzer mittels Lindenblütenteetricks unter den Tisch zu trinken. Sie bringt drei Söhne zur Welt, die alle, und das ist die große Tragödie ihres Lebens, vor ihr sterben. Alles kann auch eine Anna Stift nicht bestimmen. Hinter ihr die Sintflut: als sie im hohen Alter stirbt, hinterlässt sie wenig. Das Gut ist langsam an sinkenden Weinpreisen und Prassereien zu Grunde gegangen und muss verkauft werden.
Entstand bei Proust aus der Erinnerung an die eigenen Wurzeln noch die große Erzählung, kann man heute ein Erzählprojekt dieser Art nur noch im Puzzlestil angehen. Andrea Stift hat ihre Recherche als „work in progress“ angelegt, als Gratwanderung zwischen Faktensammlung und Fiktion. Sie gibt die Erzählungen der Familienangehörigen wieder, denkt sich psychologisch in das Leben von Anna hinein und zitiert aus deren Aufzeichnungen, einer Art Arbeitstagebuch.
Diese Offenheit ist auch auf der Ebene der Sprache präsent. Der Ton schwankt zwischen flapsiger Alltagsrede – „Das Klischee vom mit der Natur leben und mit der Natur arbeiten, es fährt voll ein“ – und einem distanzierten, wissenschaftlichen Sprachduktus: „Das Ernten, das Lesen der Trauben ist eine Angelegenheit von hohem Heiligkeitskoeffizienten.“ Wirklich lebendig wird die Figur der Anna jedoch nur, wenn Andrea Stift einfach bleibt und etwa durch das Zitieren dialektaler Begriffe den Bezug zu Zeit und Ort plötzlich präsent macht. Struktur bekommt die Suche nach der sagenumwobenen Gestalt der Urgroßmutter durch fünf Kapitel – Jugend, Lebensmitte, Alter, Tod und Ausblick auf das Erbe, denen die Autorin jeweils ein jahreszeitliches Zitat über den Weinbau voranstellt.
Andrea Stift gelingt in ihrer 122-seitigen Erzählung ein sehr differenziertes Bild der Urgroßmutter, diese erscheint nicht nur als starke Persönlichkeit, heute würde man sagen „Powerfrau“, sondern die Autorin zeigt auch die Schattenseiten ihres Charakters im Umgang mit den Mitmenschen. Bei der Recherche taucht Widersprüchliches auf: „Meine/deine Urgroßmutter hatte zahlreiche/auf keinen Fall Männergeschichten. Sie ließ sich keine Gelegenheit entgehen / hätte so etwas niemals getan.“ Die Geschichte einer starken, couragierten Frau in schwierigen Zeiten ist ein schönes Thema. Auch die Spiegelung der großen Weltgeschichte am Geschick eines kleinen Weinberges ist reizvoll.
Es bleibt die Frage, warum uns die Autorin das Leben ihrer Urgroßmutter erzählt und was uns diese Geschichte heute sagen kann. Als Role Model taugt Anna Stift nur bedingt. Ein so herrisches und selbstherrliches Gebaren kann man sich gegenwärtig vielleicht noch als Hollywooddiva leisten. „Watschen“ und „unter den Tisch saufen“ sind auch keine probaten Mittel mehr, um mit der Männerwelt mitzuhalten. Warum erzählt Andrea Stift diese Familiengeschichte? Ist es nur die Bewunderung für eine starke Frau? Der Wunsch, eine mündliche Überlieferung, die bislang von Generation zu Generation funktioniert hat, zu bewahren? Oder wird aus der Beschäftigung mit der Vorfahrin ein Gespräch zwischen den Generationen über die Geschichte hinweg?
Leider nein. Zwar setzt Andrea Stift ständig Bezüge zu ihrem heutigen Leben, sie betreffen aber in erster Linie ihre Arbeit als Autorin. Bei ihrer Suche nach der Wahrheit hinter dem Familienmythos hat sie viele Bedenken und unterbricht den Erzählfluss durch ein ständiges Schreiben über die Unmöglichkeit zu schreiben, sodass der Text stellenweise zu einem Versuch in handkescher Manier gerät.
Die Antwort, die sie selbst in ihrem Vorspann, einer Art „Disclaimer“, vorausschickt, bleibt unbefriedigend: „Wenn ich also gefragt werde, warum ich das tue, lautet meine Antwort: Manche Geschichten liegen einem in der Magengrube. Dort rühren sie sich nicht heraus, bis man sie niedergeschrieben oder eine andere, wesensähnlichere Form gefunden hat, sie loszuwerden.“
Trotzdem – und auch wenn sich in diesem Buch manche einem Debüt geschuldete sprachliche Bemühtheiten finden: Andrea Stift hat aus dem Leben ihrer Großmutter eine Geschichte gemacht, die man gerne liest, insbesondere wenn man sich für Weinbau, die Südsteiermark oder Zeitgeschichte interessiert. Sie hat ihre Urgroßmutter weder verkauft noch verraten, vielmehr einer starken Frau ein Denkmal gesetzt.