#Prosa

Rauschkinder

Christopher Staininger

// Rezension von Simone Czelecz

Rauschkinder von dem jungen Wiener Autor Christopher Staininger ist ein kleiner Band mit vier Erzählungen. Staininger erweist sich in diesen Texten als harter Realist. Kaum eine Träne fließt, obwohl er von so viel Schmerz, Erniedrigung und Misshandlung berichtet. Er erzählt seine Geschichten in einfacher, alltäglicher Sprache und verwendet häufig sehr kurze, klare Sätze. Staininger verzichtet dabei auf Metaphern, versteckte Träumereien oder poetische Verschleierung. Einzelne schneidende Worte zeugen vom Gesamtempfinden seiner Figuren, allesamt Opfer von zerstörerischer Kindheit, von Misshandlung, Missbrauch, Unterdrückung und Entwertung.

Nur die zweite Erzählung in diesem Band hat einen anderen Ansatz. „Zu kalt für diese Jahreszeit“ schweigt über die Kindheit der Protagonisten, thematisiert aber ebenso Beziehungslosigkeit und schmerzenden, krankhaften Umgang zwischen Menschen sowie entwertende Machtausübung, wobei in diesem Text die Machtverhältnisse der Protagonisten gleichmäßiger verteilt sind.

Die Menschen in den Texten von Christopher Staininger agieren aus einer Beziehungslosigkeit, ohne Achtung, Sorge und Zuneigung für einander. Beziehungen der Lüge, Beziehungen der Angst. Die Kinder sind chancenlos der Willkür und dem Missbrauch ihrer Eltern, ihrer Väter ausgeliefert. Die Familienstrukturen in den verschiedenen Erzählungen zeigen Parallelen. Immer eine Scheidung, welche die Mutter mit den zwei Kindern, einem Sohn und einer Tochter zurücklässt. Zwei mal eine neue „perfekte“ Familie des Vaters mit einem Sohn. Auch scheinen die Texte beinahe chronologisch in diesem Band angeordnet zu sein.

Die erste Erzählung „Ein zweiter Sonntag“ berichtet aus der Sicht des Sohnes. Dieser und seine Schwester Katharina sind verpflichtet jeden zweiten Sonntag mit ihrem Vater und dessen neuer Familie zu verbringen. Hier ist das Kind der ganzen Wucht von Misshandlung, Willkür, Lieblosigkeit und Machtausübung ausgeliefert. In der letzten Geschichte „Rauschkind“ eskaliert das Geschehen. All die verdrängte Aggression und der Hass drängen aus dem bereits erwachsenem Sohn, Johann Hofer, der ein erfolgreicher Maler ist. Er ermordet auf grausame Weise den verhassten Vater und seine neue Familie – ein Familienmassaker, wie wir es in Tageszeitungen lesen können. Dass das Kind aus der ersten Geschichte der mordende Sohn der letzten Geschichte werden könnte, ist deutlich.

Die zweite Geschichte schert aus den Variationen des misshandelten Kindes aus. Sie erzählt von einem Mann, der in seinen Chef verliebt ist, von ihm eingeladen wird, glaubt eine höhere Position in der Firma zu bekommen, aber nur die Verrücktheit seines Chefs weiterführen soll: seine akribische Sammlung von Videos und Aufzeichnungen über eine Fernsehmoderatorin, denn das ist sein Lebenswerk und nicht die Firma. Sie gleicht den anderen Geschichten in der Thematik des Machtmissbrauchs und der Beziehungsunfähigkeit der Figuren.

Der Autor trennt scharf zwischen Opfern und Tätern, obwohl das Unglück und die Störungen der Täter durchscheinen. Er erzählt einfach strukturierte Geschichten entlang einer Kausalkette: Missachten und misshandeln von Kindern führt zu verstörten und zerstörten Menschen und Leben. Keine Figur in den Erzählungen kann diese Kausalkette durchbrechen, sei es durch Reflexion, durch andere, neue Erfahrungen oder durch therapeutische Maßnahmen. Alle versuchen ihre Erfahrungen zu verdrängen und zu vergessen, was der menschlichen Psyche aber nicht möglich ist. So entlädt sich das Verdrängte und der Hass in Phantasien von Gewalt und Zerstörung bis hin zur offensichtlichen Aggression und Gewaltverbrechen.

Die verschwiegenen Worte in den Köpfen der Personen decken sich nicht mit den tatsächlichen Gesprächen. Kalte Deutlichkeit findet dieses Verhalten der Figuren in der dritten Erzählung „Das lachende Frauengeschicht“. Die andauernden Selbstgespräche und Gedanken der jungen Frau Birgit, die von Hass gegenüber ihren Eltern geprägt sind, stehen im krassen Gegensatz zu den höflichen, aber einsilbigen Gesprächen mit ihrer Mutter. Alle sind in ihren verheimlichten Gefühlswelten gefangen. Das passiert, wenn man als Kind niemals seine Gefühle, Gedanken und Vorlieben ausdrücken durfte.

Der Erzählband von Christopher Staininger ist voller Schmerz und harter Realität. Man möchte seine Figuren wach rütteln, aus ihrer Macht-Willkür, ihrer Beziehungslosigkeit und ihrem Stumpfsinn. Der Autor berührt hier wesentliche Themen unserer Gesellschaft. Man gelangt zu einem Verständnis für die Opfer und für den Opfer-Täter. Dennoch bietet Staininger keine Lösungen an.

Leider ist das Buch nicht sorgfältig lektoriert. Es hat sich eine Namens-Verwirrung eingeschlichen. Denn, wer ist Nina in „Das lachende Frauengesicht“? Nina kann doch nur Birgit sein.

Rauschkinder.
Erzählungen.
Linz, Wien: Resistenz, 2003.
78 Seiten, broschiert.
ISBN 3-85285-101-7.

Rezension vom 25.10.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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