#Roman
#Debüt

Rauchschatten

Ilir Ferra

// Rezension von Gerald Lind

Ilir Ferras Rauchschatten ist ein Buch, in dessen Sprache man versinken kann. Hier bekommt der zu oft benutzte Ausdruck eines „poetischen Stils“ wieder seine Gültigkeit zurück, hier sind die Sätze voller Weite und Tiefe, hier wird dem Beobachteten, Beschriebenen bisweilen ein ungewöhnlicher, außerordentlicher Nebenton mitgegeben.

Dennoch ist Rauchschatten kein Sprachroman, kein von der Sprache lebender Roman alleine. Der Text verzettelt, verliert sich nicht im Ästhetischen, das Ästhetische ist vielmehr das Gerüst, von dem aus der Roman gebaut wurde. Das Albanien der 1980er Jahre, das Aufwachsen des kleinen Erlind und die Geschicke seiner Familie erscheinen mit dieser Darstellungsweise gerade im Alltäglichen besonders, wie übrigens auch Andrea Grill in ihrem atmosphärischen Nachwort feststellt (S.169). Dabei ist der Text jedoch keineswegs unpolitisch, im Gegenteil, es ist das Politische, welches die erwachsenen Figuren – und mit ihnen auch die Kinder – bestimmt, es ist der „Rauchschatten“ des totalitären Regimes Enver Hoxhas, in den alles Leben getaucht ist.

Unterwerfung und Anpassung, das Ausloten der Handlungsspielräume, die Bedeutung von Beziehungen, der lange Arm und das wache Auge der Staatsmacht, das alles spielt eine wesentliche Rolle im Roman. Lundrim, Erlinds Vater, führt Gleitzeit in seiner Arbeit ein und entgeht nur aufgrund seiner Freundschaft mit Nikola Nushi, dem Sohn des Ministerpräsidenten, einer strengen Bestrafung. Doch seine Bloßstellung auf einer Betriebsversammlung führt zu sozialer Ächtung, und die von Nikola bei einem Besäufnis herbeigeführte Versöhnung Lundrims mit dem Kaderleiter kann die Erinnerung des Staatsapparates an sein „Fehlverhalten“ nicht auslöschen. Das Gefühl der Umzingelung und Angst bestimmen den Alltag, denn: „Unter zwei Leuten findest du drei Spione.“ (S.89) Als Nikolas Vater unter mysteriösen Umständen stirbt, erinnert sich das Regime auch Lundrims, der alles tut, um zu überleben. Nach dem Verhör kommt er nach Hause und beginnt die Fotos seiner – politisch aus Sicht des Regimes nicht einwandfreien – Familie zu zerstören. Seine Frau Ellen hält ihm vor: „Feigling. – Du kannst ja versuchen, mutig zu sein. Ich bin feig, antwortet Lundrim.“ Und symbolisch höchst aufschlussreich geht die Szene weiter: „Lundrim schnappt den Kübel und verschwindet ins Badezimmer, wo er die verdächtigen Fotos verbrennt. Ellen schneidet vorsichtig die möglicherweise kompromittierenden Gestalten [aus den Fotos] aus, zieht eine Trennlinie zwischen Mut und Angst.“ (S.148)

In diesem Umfeld wächst der kleine Erlind auf, in diesem Umfeld erleidet er einen merkwürdigen Anfall, dessen Ursachen und Symptome viel Raum für Deutungen lassen. Irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit bricht Erlind jedenfalls zusammen, an einen Löwen im Park der ehemaligen königlichen Residenz denkend, als ihn sein Vater mit dem Motorrad ins Krankenhaus bringt: „Ich vergrabe mein Gesicht in Vaters Armen, um mich an den weißen Löwen am anderen Ende der Stadt zu erinnern. Es gibt Orte, die eine Art Gegengewicht zum Rest der Welt schaffen. Dort erkennt man, dass nichts auf Erden einem wirklich etwas anhaben kann. Das erfüllt einen zugleich mit Kraft und einer eigenartigen Angst, da dieses Gefühl von Unantastbarkeit auch die Vorstellung erweckt, tot zu sein.“ (S.47) Der Tod spielt eine große Rolle in Ferras Buch und nicht von ungefähr kreuzt Erlind gegen Ende des Romans einen Friedhof und die Aura des Todes ist plötzlich auch in der Wohnung der Großeltern: „Alles schwieg. Man hörte zwar Geräusche, aber alle Gegenstände und alle Körper waren hohl und stumm.“ (S.161)

Doch gibt es auch – trotz aller bedrückenden Momente – so etwas wie Geborgenheit in Rauchschatten. Es mag klischeehaft und genderstereotyp klingen, wirkt im Text aber nicht so, wenn diese wärmende Sicherheit mit der Familie und insbesondere mit der Figur der Mutter in Verbindung steht. In Rauchschatten stehen der Vater und der Großvater, ein Oberst, für das Politische, die Gefahr, das Außen, während die Großmutter und die immer nur am Rande des Erzählten auftretende Mutter für das Innen und für einen Rückzugsort stehen. Ganz besonders deutlich wird das, als Erlind, dessen Familie neben der Schule wohnt, bei einer für ihn sehr unangenehmen Geographie-Prüfung seine Mutter im Fenster der elterlichen Wohnung erblickt: „Er verkriecht sich in sein Kindsein, und je mehr er das tut, umso erwachsener fühlt er sich. Wie Zeichen in einem magischen Buch führen ihn die Bewegungen der Mutter am Fenster an eine Erkenntnis heran, die ihn unantastbar macht.“ (S.137)

Ilir Ferras Debütroman Rauchschatten ist kein perfektes Buch. Der Text ist sich nicht immer sicher, ob er nicht doch gerne auch eine Familienchronik wäre, manche Rückblenden auf die Familiengeschichte versprechen mehr, als im Laufe des Romans eingelöst wird. Doch überwiegen die vielen wunderbaren Sätze und Beobachtungen diese kompositorische Unausgewogenheit bei weitem. Bei Ferra wird Sprache zu einem Schlüssel, der Türen zu einer Wirklichkeit öffnet, deren Schönheit gerade in ihrer scheinbaren Nebensächlichkeit liegt. Ein besonderes Buch also, dem besonders viele LeserInnen zu wünschen sind.

Ilir Ferra Rauchschatten
Roman.
Mit einem Nachwort von Andrea Grill.
Wien: Edition Atelier, 2010.
172 S.; geb.
ISBN 9783902498359.

Rezension vom 11.04.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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