#Prosa

Random Walker

Dieter Sperl

// Rezension von Martina Wunderer

„Von 1999 bis 2002 verfasste ich ein Filmtagebuch. Anhand der Aufzeichnungen, die ich während eines Filmes machte, schrieb ich meine Prosaminiaturen. Bewegungen des Films, Rhythmen, die gesamte Erzählung oder nur Teile davon, Stimmungen oder Namen, die auffällig waren, konnten jene Impulse sein, die mich in Spannung versetzten, und die ich in Literatur transformieren wollte,“ beschreibt der Autor Dieter Sperl die Genese seines jüngsten Werkes, eines Filmtagebuchs. Dessen geheimnisvoll-programmatischer Titel Random Walker, ein Begriff aus der höheren Mathematik, bezeichnet das mathematische Äquivalent zur Brownschen Molekularbewegung in der Chemie, der Eigenbewegung der Teilchen: In N Dimensionen werden die Koordinaten zufällig verändert. Einem solchen inneren Kompositionsprinzip entlang der zufälligen Wahrnehmungen und Bewegungen des Kinos folgt auch dieses Filmtagebuch, einer Poetik des Zufalls verpflichtet.

Sperls Sprachgestus schmiegt sich dabei eng an die cinematographischen Bilder an, die ihn als Zuschauer unmittelbar affizieren. In einem Schreibverfahren, das streckenweise an die surrealistische „ecriture automatique“ erinnert, übersetzt er filmische Impressionen in literarische Sprache, antwortet auf die im aktiven Sehen freigesetzten Impulse mit sprachlichen Wortbildern. Entlang der durch die Filme vermittelten Anschauungen, Rhythmen und Stimmungen entstanden so diese ursprünglich jeweils eine DinA4 Seite füllenden Textfragmente, die jeweils unter bestimmten Oberbegriffen geführt werden. Ob es sich dabei um abstrakte Begriffe handelt, wie bei Zwei Leben, Kindheit, Traum oder Orakel, um reale Orte wie Busstation oder Hongkong, oder um sinnliche Eindrücke wie Hitze, die sprechenden Namen dieser Sammelbegriffe sollen beim Leser ähnliche Assoziationen hervorrufen wie die cinematographischen Bilder es beim Autor taten.

Sperl exerziert in diesem Filmtagebuch vor, was die moderne Filmtheorie als eines der Paradigmen des Verstehens von Film formuliert: Als Gestaltungen kultureller Phantasien sind cinematographische Bilder immer schon als zu vollziehende Wahrnehmungsakte konstruiert. Das Kino vermittelt zwischen symbolischen und leiblichen Ordnungen, wie es im englischen Wortspiel motion/emotion anschaulich wird, es ist unmittelbar emotiv, körperlich erfahrbar. Bereits während der Dauer der Filmbetrachtung reflektiert der Zuschauer seine eigene Affektivität, denn erst seine Wahrnehmung ist der Ort, wo das Filmbild sich verwirklicht.

Dabei vermitteln Filme Subjektpositionen, ohne sie jedoch festzumachen, Subjektpositionen, die Sperl in seinen Texten vorübergehend besetzt. Er lässt sich probeweise auf sie ein, wagt es, als Wahrnehmender in einer anderen Welt als der eigenen verortet zu sein, die Logik der Alltagswelt der Dynamik des Films zu opfern. Doch erst in einem zweiten Schritt, in der Transformation in Literatur, bannt Sperl das flüchtige filmische Wahrnehmungsbild auf Papier und schenkt ihm dadurch ein Dasein, das über die Dauer seiner Projektion auf die Leinwand und über die Dauer der subjektiven Empfindung des Zuschauers hinaus besteht: „…an vielen Orten zu sein und dabei etwas der Erinnerungslosigkeit entrissen und gleichzeitig Erinnerungslosigkeit produziert zu haben“. So wurde aus den anfänglichen Filmskizzen mehr und mehr ein autonomes Kunstwerk: „Ging es mir am Anfang noch darum, für die Filme adäquate Textmöglichkeiten zu schaffen, verwendete ich die Filme bald ausschließlich als Schreib- und Denkimpulse.“

Lyrik kommt neben Pornografie, Liebe neben Gewalt, Banales neben Tragischem, Kindheit neben Tod zu stehen. So vielseitig die Themen, so unterschiedlich der Sprachgestus der einzelnen Textsplitter. Ein nicht enden wollender, ausufernder, durch keine Interpunktion strukturierter Satz begleitet etwa Jim Jarmuschs Ghost Dog durch die einsamen Straßen auf den Pfaden seines Künstlerdaseins (Traum 3), während Takeshi Kitanos Hana-Bi (Meer 4) nur in sparsamen Satzgerüsten zum Leser spricht, atemlos, sprachlos, in einer Aneinanderreihung von Bildern, erstarrt zu Substantiva, hinter denen die schreckliche Ahnung eines Verbrechens lauert:

„Der Fujijama bleibt davon unberührt.
Sie wird sterben. Seine Frau.
Er nimmt ihr die Zigarette weg.
Sie trägt eine Baseballmütze und eine blaue Jacke.
Sie wird sterben.
Knusperschokolade und Kreuz Dame.
Schneeketten auflegen. Schnee und Eis.“

Konträr zu den Erwartungen, die die Gattungsbezeichnung Tagebuch aufruft, lässt sich keine Erzählerstimme aus dem Text destillieren, vielmehr präsentiert dieser sich als vielstimmiges Echo, als Kakophonie verschiedener Fragmente filmischer Diskurse, im Sinne von Sperls Poetologie, die von einer Auflösung des Substanziellen in unentwegte Bewegung ausgeht, wie sie auch der Text selbst reflektiert:

„Menschen verschwinden in den Bewegungen, in den Farben über den Häusern, den Schornsteinen und den Wolken, verschwinden in den U-Bahnaufzügen, in den Schächten ihrer Gewohnheiten. Dann tauchen sie wieder auf an ihren gebrochenen Herzen über den Tellern, den Abgründen der Suppentöpfe, in einem Bauch, wo das Kind wohnt, wenn sie mit den Türklinken in der Hand auf das Glück warten, wenn sie warten. (Wong Kar-Wai: Chunking Express, April 3)“

Der Autor überlässt sich wachsam den vermittelten visuellen Eindrücken, verleiht den Figuren, Szenen, Motiven des Films eine Stimme, um sie im Medium der Sprache zu etwas Neuem, Anderem, Bleibendem zu fügen. Die cinematographischen Bilder gefrieren in dieser Papier gewordenen Reflexion zu Worten, bleiben jedoch hinter der sprachlichen Hülse der Metapher, der rhetorischen Figur des bildhaften Sprechens, bestehen, scheinen zwischen den Zeilen, in den Leerstellen zwischen den Buchstaben hindurch, gerade wenn der eigentliche Bedeutungsgehalt der Worte durch die Strapazierung der Sprache, durch Verknappung, Verfremdung, Wiederholung unterlaufen und der Blick geschärft wird, für das, was sich an Mehr an Bedeutung hinter den Begriffen verbirgt:

„Ein Klavier spielt vor leeren Notenständern, es ist spät am Abend, eine Frau steht regungslos, sie sieht älteren Menschen zu, wie sie ihre Körper über das Tanzparkett schieben, mit einer Leichtigkeit, noch mit einer Leichtigkeit, wie Wolken ziehn sie vorüber, mit dieser Leichtigkeit, wie lange noch?“ (Aki Kaurismäki: Wolken ziehen vorüber, Wolken 1)

Die Filme, auf die sich die Prosaskizzen beziehen, bleiben so als Ahnung, als Schatten einer vergangenen Wahrnehmung präsent, sie regen den Leser zum Ratespiel an und versprechen eine besondere Lust am Text, wenn Zitate, Figuren, Szenen aus dem jeweiligen Film erkannt werden. Vielleicht unnötigerweise – denn dadurch verdirbt er dem Leser das intellektuelle Vergnügen an der Spurensuche im Text – verrät der Autor in einem Anhang, welcher Film dem jeweiligen Text zu Grunde lag.

Doch auch dem Leser, der nicht alle dieser Filme kennt, dem diese intertextuelle Ebene des Werks verschlossen bleibt, schenkt das Filmtagebuch eine Fülle an Stimmungsbildern und Eindrücken, es präsentiert sich als ein ausuferndes Mosaik an Lebensentwürfen und Subjektpositionen, als ein Panorama der Welt in all ihren Facetten, oder – vorsichtiger formuliert – der Weltentwürfe, wie sie Kino und Literatur als Abenteuer im Kopf konstruieren.

Random Walker. Filmtagebuch.
Klagenfurt: Ritter Verlag, 2005.
272 Seiten, gebunden.
ISBN 3-85415-378-3.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 07.12.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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