#Sachbuch

Rainer Maria Rilke. Im Herzwerk der Sprache

Rüdiger Görner

// Rezension von Alfred Pfabigan

Der „Ulysses“ von Joyce, Musils „Mann ohne Eigenschaften“, die Proustsche „Suche nach der verlorenen Zeit“ – die Liste der Meisterwerke des zwanzigsten Jahrhunderts, die Schule gemacht haben, bewundert und auch gekauft, und dennoch im Publikum kaum adäquat – und das heißt mehrmals und reflektierend – gelesen wurden, ist endlos und auch das Werk Rainer Maria Rilkes ist auf ihr zu finden.

Rilke ist ein typischer Autor „zum Durchblättern“, einer, von dem man ein Gedicht, eine Strophe oder gar nur eine Zeile liest und den man dann – häufig mit großer Bewunderung – wieder verlässt. „Everybodys Rilke“ wird gerade durch eine scheinbare sprachliche Unbestimmtheit anziehend und Formulierungen wie die vom „Denken des Herzens“ oder die Parabel vom Dichter als einem singenden Ruderer laden geradezu ostentativ zu einer romantisierenden Privatinterpretation ein. Doch was versäumt man bei einer solchen Lektüre, wie ist es dem Autor gelungen, seine LeserInenn zumindest kurzzeitig so intensiv zu involvieren und vor allem, wie war das poetologische Programm beschaffen, das hinter den gelegentlich überraschenden, ja geheimnisvollen Formulierungen Rilkes steht?

Das sind wohl die zentralen Themen von Rüdiger Görners sehr schönem, aber auch recht schweren Buch über Rilke, das auf sanfte, aber sehr nachdrückliche Weise gegen das etablierte Leseverhalten Rilke gegenüber polemisiert und gleichzeitig die „software“ des Rilkeschen Sprachverhaltens in ihren Veränderungen zu rekonstruieren versucht. Auf den ersten Seiten findet sich eine wichtige Feststellung: jene etablierte Einteilung von Gesamtausgaben etwa in Gedichte – Prosa – Dramen – Essays und Briefe erschwert generell und besonders bei Rilke den Nachvollzug der „Geistesarbei“ des Autors, der ein nahezu lebenslängliches sprachliches „trial and error“-Verfahren betrieben hat, das er intensiv kommentierte und in dem die zeitgleich entstandenen Texte ineinander verklammert sind. Der Rilke, den uns Görner unter weitgehenden Verzicht auf Biographeme vorstellt, hat an „seine“ Sprache sehr bewusst eine „Maximalforderung“ gestellt. Der Eindruck des Überraschenden, aber gleichzeitig Rätselhaft-beliebigem, der in der flüchtigen Lektüre entsteht, ist ein Folge der nur schwer rekonstruierbaren Rilkeschen „Sprachutopie“, des ehrgeizigen Versuch, zum „Äußersten“ zu gelangen, in eine „andere“ (Sprach-)Wirklichkeit.

Rilke war, das zeigt Görner, durchaus ein Kind seiner Zeit, er gehörte zu den Zeitströmungen der Dekadenz und des Symbolismus und war dennoch gleichzeitig außerhalb. Sein Postulat, dass Kunst der Dialog mit den Dingen sei und dass die Grenze zwischen Kunst und Leben zumindest fließend sei, gehört zum Zeitgeist, und Rilke war auch ein „Schwamm“, der für internationale Moden (unter Vernachlässigung des angelsächsischen Raumes) durchaus offen war und Inspirationen aus der Musik, der Malerei, der Philosophie und auch der Natur bezog. Doch das zielte weniger auf „Wirkung“, als ihm manche seiner Zeitgenossen unterstellten. Vor allem, und das zeigt Görner mit einer beeindruckenden Beharrlichkeit, hat Rilke jene Ideen, die er aufgegriffen hat, ernster genommen als manche seiner Zeitgenossen.

Es ist schwer, die Ergebnisse von Görners „Großessay“ zu komprimieren. Nur soviel sei gesagt: Rilke, der Schüler Rodins, hatte sein Leben unter das Postulat des unentwegten „Arbeitens“ gestellt, ein Postulat, dessen Erfüllung den Zustand der „Einsamkeit“ bedingte, der sich aber gleichzeitig als Thema aufdrängte. Das Rilkesche „Arbeiten“ zielte genau auf das Gegenteil der überraschenden Beliebigkeit: Görner definiert es als den „Aufwand, der nötig ist, um den Dingen jegliche Art des Zufalls, der Beliebigkeit und damit Unklarheit zu nehmen“. (S. 260) Hier sollte das richtige, das absolut richtige, ja vielleicht sogar einmalige Wort für das jeweilige, bedeutungsmäßig breit gefasste „Ding“ gesucht werden und hier sollte auch versucht werden, eine informelle, aber dennoch verallgemeinerbare Theorie des richtigen Sprechens zu entwickeln. Dass Rilke in seinem Frühwerk, dem gescheiterten Stück „Das tägliche Leben“ seinen ebenso gescheiterten Künstler Georg Millner die Hoffnung artikulieren lässt, etwas auszusprechen, „was eigentlich nur als Schweigen denkbar ist“, heißt nicht, dass er diese Erlösungsphantasie je aufgegeben hat. Dass dabei gelegentlich „bedeutungsträchtige Reimkunst in Vollendung“ mit ihrem „geschmackfernen Gegenteil“ (S. 96) koexistierte, leugnet auch Görner nicht. In einer präzisen Beschreibung, die sich nicht auf das poetologische Feld beschränkt, sondern auch versucht, aus Rilkes Denk- und Gefühlswelt die Kategorien zu extrahieren, zeigt Görner, wie Rilke auf eine höchstpersönliche und kaum verallgemeinerbare Weise versuchte, die angestrebte sprachliche Intimität mit den Dingen zu erreichen, bis hin zu jenem „Inneren“, von dem Malte meinte, er wisse nicht, was dort geschehe.

Wer Rilke mit dem Wissen liest, dass es hier um den Versuch geht, eine andere Sprache zu konzipieren, wird mit Görners Hilfe überraschende Funde machen. Die als Konzession an die patriotischen Exzesse berüchtigten „Fünf Gesänge“ vom August 1914 etwa werden als eine Konfrontation zwischen dem „Herzen“ und einer zwingenden, aber keineswegs akzeptierten manipulierenden Konstellation gelesen. Wer schreibt, so Görner wohl nicht nur in Hinblick auf Rilke, sei der Verführung durch die Magie des Maskenhaften bereits erlegen: „Wer nun als Leser den Dichter beim Wort nehmen will und von diesem Wort auf den Dichter schließt, vergisst, dass der Dichter im Text nicht sich, sondern die Sprache beim Wort genommen hat.“ (S. 123) Und auch das bekannte „Du musst Dein Leben ändern“, von vielen als grundlegender Imperativ der Moderne als Lebensform gelesen, bedeutete für seinen Urheber wohl auch, vielleicht sogar zunächst, dass er – und der Adressat dieser Aufforderung – ihre Sprache ändern müssten.

Rüdiger Görner Rainer Maria Rilke. Im Herzwerk der Sprache
Porträt.
Wien: Zsolnay, 2004.
343 S.; geb.
ISBN 3-552-05302-6.

Rezension vom 14.04.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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