#Lyrik

RÆNDERN

Christoph Szalay

// Rezension von Angelo Algieri

„sag, was nennst du Heimat“, fragt gleich zu Beginn der außergewöhnliche Dichter und Künstler Christoph Szalay in seinem neuesten Band RÆNDERN, just beim Ritter Verlag erschienen.

„Heimat ist kein Ort / Heimat ist ein Gefühl // Geführt von geklonten Patrioten / Im nationalen Krampf“, beantwortet etwa Herbert Grönemeyer diese Frage in seinem Lied Heimat, während die Endzwanziger Rock-Band AnnenMayKantereit in einer ihrer Songs klarstellt „Ich habe keine Heimat, ich habe nur dich / Du bist zuhause für immer und mich“. Anders der junge Philosoph Christian Uhle, der im Gespräch mit der Schriftstellerin Ronja von Rönne feststellt: „Heimat ist Erfahrungsqualität“ und schließlich deklarieren die postmigrantischen Schriftsteller*innen Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah in deren Band-Anthologie: Eure Heimat ist unser Albtraum.

Szalays Gretchen-Frage also lässt eine große Bandbreite an Antwort- und Ansatzmöglichkeiten zu. Mehr noch: In den letzten Jahren ist der Heimatbegriff polemisch geführt worden, ist zu einem regelrechten Kampfbegriff avanciert – und längst nicht nur bei den sogenannten neuen Rechten; man braucht nur an die Zusatzbezeichnung „Heimatministerium“ von Innenministerien denken.

Diesem Heimat-Diskurs nähert sich RÆNDERN auf poetisch-reflektierte und faszinierend facettenreiche Art an. Anders als die oben erwähnten Künstler*innen und Intellektuellen ordnet Szalay den Begriff zunächst ein; er rändert ihn – wie der Titel des Bandes andeutet. Zudem wird der Heimatbegriff von Zyklus zu Zyklus von den Rändern her ausgelotet und so immer wieder infrage gestellt.

So grenzt der in Haus im Ennstal lebende Szalay im ersten Zyklus „sag, was nennst du Heimat“ den Begriff zunächst territorial ein: die obligatorischen Berge dürfen ebenso wenig fehlen wie Wälder, Felder, Marktplätze und Glockengeläut. Kurz: die perfekte Idylle. Doch Szalay wäre nicht Szalay, wenn in dieser ach so herrlichen Landschaft nicht Abgründe lauerten – nicht nur thematisch, sondern gerade auch sprachlich. So irritiert Szalay uns Leser*innen mit kursivgesetzten Zitateinsprengseln in „urdeutschen“ Stabreimen: „aufziehen / auslasten // artfremd“ – die Idylle bekommt erste braune Risse. Sie ist fragil und Szalay untermalt dies durch eindrucksvolle Metaphern und griffige Vergleiche: „oder wie oft bist du durchs Unterholz gebrochen“, „oder wieviele Schritte, denkst du, trägt das – zwischen Schilf gespanntes Eis“ oder „nichts ist so schön wie dreiviertel / Kilo Magazin in der Hand“.

Und natürlich darf der Wald – Sinnbild des Romantischen, der „Ur-Sehnsuchtsort“ der Deutschen/Österreicher – nicht fehlen. Doch der Wald, in den bei Szalay nicht nicht nur Schneisen geschlagen werden, hat immer etwas Erschauderndes, Unheilvolles. Weniger im schauerhaft-romantischen Sinn. Eher als metaphorischer Ort, in dem Sachen, Geschichten, Personen verdrängt werden: „also dass halt immer einer im Wald / hat bleiben müssen …“ Immer wieder kommt das Verschwinden meist als Synonym für das Versiegeln und Vergessen der Gräueltaten im Nationalsozialismus vor. Die Frage: „sag, ab wann darf Wald wieder Wald sein“ kann folgerichtig mit „Nie“ beantwortet werden. Wenn man noch bedenkt, dass Wald und Heimat spätestens bei den Nationalsozialisten in ihre Blut-und-Boden-Ideologie eingefasst bzw. eingerändert wurden …

Szalay macht uns richtigerweise auf das Narrativ von Heimat und auf den Kontext des Heimatbegriffes aufmerksam. Im titelgebenden Zyklus „Rændern“ und im darauffolgendem Zyklus „die eigene Hand vor Augen“ wird u.a. reflektiert, wie über Heimat geschrieben werden soll/kann. Hat Heimat nicht ihre „Unschuld“ verloren, wenn sie mit der Nazi-Ideologie konnotiert ist? Und wenn jemand Heimat sagt, sagt er nicht automatisch „wir gegen euch“? Und wer gehört dazu und wer nicht? Wie schlägt sich der Heimatbegriff in unserer Gegenwart, in unserem Alltag nieder? Haben politische und pathetische Wörter wie Patriotismus, Vaterland, Nation nicht ihren konzeptuellen Ursprung im in der Romantik aufgeladenen und bei den Nazis missbrauchten Heimatbegriff?

Darüber reflektiert Szalay in seinen beiden letzten brillanten Zyklen, die ausnahmslos jede*r lesen sollte. Im fünften Zyklus „plus dreiundzwanzig Grad und“ wird aus der Vogelperspektive eine schöne, märchenhafte Landschaft in Deutschland beschrieben. Gleich darauf wird das Bild konterkariert von einem chauvinistischen Schmähgesang deutscher Fußballer (Mario Götze & Co bei der Feier der Fußballweltmeisterschaft 2014 am Brandenburger Tor) – das Schwarz-Rot-Goldene-Patriotismus-Gefühl bekommt einen arg herben Beigeschmack. Auch die Forderung, dass man die Nazi-Vergangenheit endlich ruhen lassen solle, wird in diesem Text thematisiert und es gefriert einem das Blut in den Adern, weil die eingeflochtenen Stellen die Essenz der Geschichtsrelativierung bzw. Geschichtsklitterung im Alltag so gut darstellen: „weißt du irgendwann is es doch gut irgendwann kann man?s doch gut sein lassen sagst du man, six billion that?s quite a bite, man, but hey, the time?s flyin? you know what i mean #chillinindachau“. Ein starker, mehrschichtiger, rhythmischer Text, der unbedingt auf Wänden und T-Shirts angebracht sowie auf Rücken tätowiert werden müsste. (siehe Leseprobe)

Doch das verblüffende Finale kommt ja noch: „Heimat / (Fade-out)“, der sechste und letzte, mit Abstand längste Zyklus. Auf den geraden Seiten haben wir „unschuldige“ Versatzstücke eines Vortrags von Martin Sellner, Vorsitzender der Identitären Bewegung Österreichs, über Heimat. Auf der anderen Seite wird zunehmend dieser Heimatbegriff infrage gestellt in Form von Enzyklopädie-Einträgen oder Kinderspielzitaten, die im Kontext gar nicht lustig sind, sondern erschreckend. Mit überschriebenen Seiten und Auszügen aus HipHop-Texten und Manifesten, etwa von Kendrick Lamar, Joey Bada$$ und Mujeres Creando. Zusätzlich gibt es Screen-Shots aus Youtube-Videos, Zeichnungen (filigran gelungen von Bettina Landl), Textauszüge in verschiedenen Sprachen: englisch, spanisch, arabisch. Die Message scheint klar zu sein. Erst recht wenn auf der „Identitären“-Seite blanke Seiten zu finden sind: Der einfache, klare Heimatbegriff, den Sellner & Co. benutzen, ist mager, oberflächlich, naiv – und gerade deshalb gefährlich, diskriminierend und ausschließend. Während die Reflexionen auf der anderen Seite zum Schluss hin rebellisch, komplex, zutiefst aufklärerisch und einschließend sind. Und vor allem, Szalay dimmt den Heimatbegriff, wie es im Zyklustitel heißt, nicht nur runter, er überwindet ihn regelrecht und emanzipiert sich davon mit queerfeministischen, antirassistischen Aussagen. Folglich heißt es am Ende des Zyklus triumphierend: „deine Kategorien sind ab hier unbrauchbar“.

Was für ein grandioses Finale! Was für ein Statement! Und zwar auch auf einer anderen Ebene, das mit Szalays Kunstverständnis eng zusammenhängt. Denn er ist ein Dichter und Künstler, der die Grenzen von Genres, Kunstdisziplinen und -theorien in seinem künstlerischen Schaffen seit über zehn Jahren überwindet. Exemplarisch auch in diesem Buch zu sehen: Während im ersten Zyklus Gedichte aus Zweizeiler-Strophen bestehen, haben wir etwa im fünften Zyklus ein fließendes Essaygedicht und im sechsten erinnert die Vorgehensweise an Collagen der Bildenden Kunst. – Die konventionellen Formen werden ständig überwunden, die Ränder stets eingerissen.

Fazit: Mit RÆNDERN ist dem mehrfach preisgekrönten Christoph Szalay, Jahrgang 1987, ein mehrdimensionaler und ungemein rhythmischer Text meisterlich gelungen. Der Band stellt einen wichtigen Beitrag zu Debatten rund um Heimat, Leitkultur, Patriotismus und Nationalismus dar. Zudem ist er unbedingt als ein Diskurs-Beitrag über Trans- und Interdisziplinarität zu verstehen. Ränder sind somit Orte, wo man zusammenkommt und wo Neues, Spannendes entsteht – und nicht, wo Abgrenzung und Abschottung herrschen. Szalay sprengt auf vielen Ebenen jegliche Grenzen. – RÆNDERN ist eine zutiefst erhellende, erkenntnisreiche Lektüre!

RÆNDERN.
Lyrik.
Klagenfurt/Graz: Ritter Verlag, 2020.
120 Seiten, broschiert.
ISBN 978-3-85415-607-9.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 24.03.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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