#Roman

Quecksilberlicht

Thomas Stangl

// Rezension von Angelika Reitzer

Geschichte, Material, Bewegungen, Temperatur und vor allem: sich auflösende, auseinanderbrechende Körper der Helden. Die Sprache in Stangls Debütroman „Der einzige Ort“ war nicht entweder erzählend oder diskursiv, sondern vielfach (vielschichtig) überlagert bzw. überlagernd und vermittelte eine Körperlichkeit und Gegenwärtigkeit des Erzählten, eine gänzlich neue Verkörperung zeitgenössischen Erzählens war in die Welt der Literatur gekommen, ein großes Glück für uns Leser:innen.

Im sechsten Roman Quecksilberlicht von Thomas Stangl greifen wiederum Narratives und Diskurs, Reflexionen über das Schreiben dieses Romans als eine Fortsetzung (und Teil) des eigenen Lesens (Lebens?) ineinander, sind Sinnliches und Theoretisches auf abstrakte, aber auch sehr körperliche Art wiedergegeben.

Mindestens drei Erzählstränge hat der Roman, die allerdings unterschiedliches Gewicht und unterschiedlichen Umfang haben. Die jugendliche Großmutter des Erzählers aus Wien-Simmering (dem „Arsch von Wien“) verliert ihren Vater; wie sie schreiend aus dem Haus läuft, erzählt Stangl immer wieder (anders?). Thema sind die Großmütter, Familiengeschichte, durchaus auch Anekdotisches, linke und rechte Familienteile und dann natürlich das eigene Zur-Sprache-Kommen innerhalb dieser Geschichte. Stangl erzählt hier sehr persönlich, aber das Persönliche wird nie privat, weist immer in Richtung großer, endgültiger Fragen (Lügen – Literatur – Freiheit – Tod), die gute Literatur zumeist ausmachen und sich darin mit den anderen Strängen verweben. Mit dem chinesischen Kaiser Qin Shihuangdi, der den Tod besiegen will und an einer Quecksilbervergiftung stirbt, oder mit den (schreibenden) Geschwistern Brontë, allesamt vor dem Vater verstorben. Als Kinder und junge Erwachsene erschaffen sie gemeinsam Phantasie- und Sagenwelten, und während Stangl die Weltliteratur der Schwestern immer wieder als bedeutsam für seine eigene Lese- und Schreibsozialisation nennt, stellt er in „Quecksilberlicht“ den am meisten geförderten und einzigen Bruder in den Vordergrund: Branwell, der vor allem durch ein Portrait in Erinnerung blieb, das er von den Geschwistern gemalt hatte. Sich selbst löscht er auf dem Gemälde aus und bleibt doch als massiver gelblicher Schatten zwischen den Schwestern sichtbar/unsichtbar. Alle Geschwister sind sehr früh bis jung gestorben, der Bruder allerdings ohne ein großes Werk hinterlassen zu haben. An ihm zeigt Stangl die eigene Fremdheit als Erzählender, in der eigenen familiären Umgebung, in der Welt überhaupt – nicht der eine sein und nicht der andere.

Die Zeiten, Geografien und Ichs werden mit kleineren und größeren Verschiebungen und Faltungen übereinandergelegt, was mich an farbige Druckbögen denken ließ, die nicht exakt gedruckt werden, sodass die einzelnen Farben eigene Konturen zeichnen – das ist natürlich ein banaler (blasser) Vergleich, da Stangls Literatur alles andere als zweidimensional ist, aber der bescheidenen Leserin bei der Lektüre einleuchtete. Und der Autor selbst sagt auch in einem Gespräch, dass sich „die Zeiten berühren“ sollten. Jede erzählende Figur ist auch ein erzählendes Ich, das in der Literatur, aber auch aus der Literatur existiert; eine Person zu sein, Autor(in) des eigenen Lebens, bedeutet ein ständiges Umschreiben und Vergessen, aber auch die Konfrontation mit der eigenen Existenz (im Spiegel, aber die [erzählten] Räume haben bei Stangl auch Rückseiten) – das Töten und Schreiben liegen bei Stangl folgerichtig nahe beieinander. Neben den Brontës gibt Thomas Stangl einen weitreichenden Einblick in die Literatur, die sein Lesen und Leben ausmacht, Richard Obermayr sei hier erwähnt, da sein Sich-selbst-aus-dem-Leben-Hinausweisen immer wieder nicht nur aufblitzt zwischen den Sätzen und Literaturen, sondern stellenweise wie ein Zentrum dieses Romans wirkt, der zugleich viele Zentren eröffnet.

Godards Art der Montage, Unerwartetes, nicht Zusammengehörendes aneinanderzuschneiden und somit revolutionäre Momente (in der Kunst) zu ermöglichen, ist für Thomas Stangl eine wichtige Inspiration, er selbst nennt es das „Prinzip Godard“. Im Roman Quecksilberlicht geht er wieder einmal einen Schritt weiter; wie eine Sprache, die er nicht versteht, aber perfekt spricht, will er „am Sinn vorbei eine andere Sprache erreichen“ (188). Das tut er, ich nenne es das „Prinzip Stangl“, und: was für eine Sprache, was für ein Sinn!

Thomas Stangl Quecksilberlicht
Roman.
Berlin: Matthes & Seitz Berlin, 2022.
267 S.; geb.
ISBN 978-3-7518-0084-6.

Rezension vom 12.11.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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