#Roman

Quasikristalle

Eva Menasse

// Rezension von Emily Walton

Es gibt Bücher, die schon auf der ersten Seite verraten, wie es weitergehen wird. Man weiß, ob sie fesselnd sein werden. Oder fad. Anspruchsvoll. Oder Trivial. Eva Menasses Roman Quasikristalle lässt sich nicht so schnell in eine Schublade stecken.

Zunächst mag der/die LeserIn meinen, er/sie tauche ein in einen Jugendroman. Da gibt es das Dreiergespann: Judith, Xane und Claudia. Kein wirkliches Trio eigentlich, denn Claudia ist die immerwährende Außenseiterin. Sie ist die Unglücklichste der drei, die nicht lange eine Rolle in Quasikristalle haben wird. Sie stirbt.Das erste Kapitel – oder soll man sagen: die erste Kurzgeschichte? – endet mit Claudias Begräbnis. Hier ahnt man als LeserIn noch nicht, dass gleich ein Bruch folgen wird. Dass die nächste Seite mit einer neuen Geschichte, die von Bernays, einem Uniprofessor, beginnt. Verschwunden ist nicht nur Claudia. Sondern auch Judith. Und Xane?Xane taucht wieder auf. Als Teilnehmerin einer Studienreise ins Konzentrationslager, die Bernays leitet. Nicht nur in der zweiten Geschichte taucht Xane auf. Auch in der nächsten, der über- und überübernächsten. Denn Xane Molin ist die eigentliche Hauptfigur des 426-seitigen Buchs. Sie ist der rote Faden, der sich durch den Text webt, mal im Vordergrund steht, dann wieder verschwindet. Der Leser wähnt Xane Molin endgültig fort, da taucht sie wieder auf.

13 Geschichten sind es, die jeweils aus einer anderen Perspektive erzählt werden und  jeweils einen anderen Lebensabschnitt der weiblichen Protagonistin beleuchten. Da gibt es den Vermieter, der Xane auf ihrem Nordbalkon beobachtet. Oder die  Schwester von Judith (erste Geschichte), die Xane Jahre später auf einer Party in der Berliner Künstlerszene wiedertrifft. Und die Frauenärztin, die Xane mit Mitte 30 unterstützt, endlich schwanger zu werden. Aus ihrem jeweiligen Blickwinkel beschreiben die anderen Figuren die Protagonistin Xane. Eine Heldin, die sich immer wieder selbst erfindet. Oder liegt diese Wandlung nur an den wechselnden Betrachtern?
Ein Entwicklungsroman ist dieses Buch, ja. Aber anders und geschickter konstruiert als viele herkömmliche. Jede Geschichte in diesem Buch könnte für sich allein stehen. Der Leser könnte genauso gut Quereinsteiger in Xane Molins Leben sein. Er könnte das Buch bei der Hälfte aufschlagen und dort zu lesen beginnen, wo Xane den einflussreichen Nelson mit den zwei verschiedenfarbigen Augen begehrt. Es würde funktionieren. Natürlich ist es empfehlenswerter, die Figur der Xane in ihrer Gesamtheit – vom Jugend- bis ins Großmutteralter – kennen zu lernen.

Quasikristalle
erzählt eine Lebensgeschichte. Erzählt aber auch Geschichten über das Leben. Besonders einprägsam ist etwa jene Geschichte, die aus Sicht der Frauenärztin Heike erzählt wird. Die Gynäkologin setzt sich damit auseinander, warum manche Frauen schwanger werden und andere nicht. Gesellschaftspolitisches spart Menasse, die zuvor die Titel Vienna und Lässliche Todsünden publizierte, nicht aus. Themen wie die Rolle der Frau oder der Umgang (der Österreicher) mit der NS-Vergangenheit werden angeschnitten. Der ‚Wiener Schmäh‘ sorgt für ein Setting, für Lokalkolorit.
Das Buch, hat man sich einmal auf die wechselnden Schauplätze eingelassen, entwickelt einen ungeheuren Sog. Es ist ein Roman (oder doch ein Erzählungsreigen?), den man im Gehen, Stehen, Fahren weiterlesen möchte und der 420 Seiten außergewöhnlich gut ausfüllt.
Anmerkung: Der Titel Quasikristalle bezieht sich auf die Entdeckung von Daniel Shechtman, dass Kristalle nicht nur in ihrer geordneten Struktur vorkommen, sondern auch in einer gebrochenen Form.

Eva Menasse Quasikistralle
Roman
Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2013.
432 S.; geb.
ISBN: 978-3462045130.

Rezension vom 01.04.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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