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Prantztal

Paul Tremmel

// Rezension von Walter Wagner

Eingekeilt zwischen den dunklen Felswänden der obersteirischen Berge liegt der fiktive Ort Ilg mit seiner romanischen Kirche und den verstreuten Gehöften, die wie Trutzburgen das verschlafene Prantztal bewachen. In dieser ländlichen Umgebung haben sich die Riten einer patriarchalen Ordnung erhalten, die den Frauen die Sphäre des Häuslichen und den Männern die Dorfwirtshäuser als Bühne ihrer seit alters feststehenden Rollen zuweisen.

Als im Dezember 1969 Hans und Ros Festdorfer vulgo Kaiblinger ein Sohn geboren wird, beginnt, wie im volkstümlichen Drehbuch vorgesehen, ein Reigen von Besäufnissen, in dem der Vater seinen Mann steht und seinen Ruf als strammer Alkoholvernichter bestätigt. Während also draußen die Maulhelden das Heft in der Hand haben, diktieren ihre Frauen zuhause die Regeln. Dies gilt auch auf dem Festdorfer Hof, dem größten weit und breit, dessen Geschicke Kaiblingers Mutter Flora, ihre zwei Schwestern und Res bestimmen. Onkel Konrad hingegen, ein ehemaliger Buchhalter, hält trotz der matriarchalen Übermacht in der Stube schweigend die Stellung, wiewohl er weiß, dass im Kerker der Konventionen nichts zu verteidigen ist.

In diesen Kosmos, wo „das Harte und Grobe“ feinere Regungen wie Mitgefühl und Zärtlichkeit im Keim ersticken, wird der kleine Hansi erbarmungslos hineingestoßen. Emotional vernachlässigt, geohrfeigt und geprügelt, verbringt er seine Kindertage beim Vieh, das ihm jene Wärme und Zuneigung schenkt, die ihm die Seinen vorenthalten. Sentimentale Anwandlungen sind im Prantztal nämlich ebenso fehl am Platz wie Träume, die sich trotz der Allgegenwart von Häme und Spott freilich nicht austreiben lassen. Einer unerklärlichen Sehnsucht folgend, steigt der verwahrloste Hansi daher gern auf den Dachboden, um durch die Luke den Blick bis an die Ränder des Tals schweifen zu lassen. Von diesem Ausguck erspäht er auch die vollgepackten Fahrzeuge, die auf der so genannten Gastarbeiterroute am Hof vorbeirollen und in der Ferne verschwinden. Früh ahnt der auf sich allein gestellte Knabe, dass es eine Welt außerhalb von Ilg gibt, die zu erkunden sich lohnen könnte. Zuvor jedoch hat er den Spießrutenlauf einer brutalen Erziehungsdressur zu durchlaufen, die ihn schnell zum Schulversager und Außenseiter macht.

Gleichwohl erreichen den vom Schicksal so wenig verwöhnten Hansi bisweilen zarte Gesten der Menschlichkeit, welche eine Existenzform jenseits von Gewalt und Verachtung möglich erscheinen lassen. Die flüchtige Begegnung mit einem türkischen Gastarbeiterkind, die innige, von den Festdorferischen vereitelte Beziehung zur taubstummen Selma, Kameradschaften während des Grundwehrdienstes und die Freundschaft mit einem Aubewohner zeigen, dass es selbst für Hansi einen Ausweg aus dem Teufelskreis von Einsamkeit und Scheitern gibt. Demgemäß lautet der weise Rat eines wohlmeinenden Senners, der dem Kaiblinger-Sohn Mut machen wird: „Du bist a erwochsena Monn, du brauchst di vor gar nix firchten, außer vor dir solba.“

Um seine „éducation sentimentale“ voranzutreiben, ist es allerdings nötig, die stumpfsinnige Enge seines Dorfes hinter sich zu lassen. Und so bricht Hansi eines Tages auf, nimmt den Zug und fährt nach Wien, wo er sich als Bauarbeiter durchschlägt, ehe er erneut in den Bannkreis des Alkohols gerät und seinen sozialen Abstieg fortsetzt. Obdachlos und ohne Beschäftigung zieht sich der junge Mann von der Großstadt in die Lobau zurück, wo er sich einen Unterschlupf baut und der Betrachtung der Natur hingibt. In dieser ihm fremden Landschaft trifft er auf den viel älteren Wolfgang, einen anderen Weltflüchtigen, der ihm zum fürsorglichen Mentor wird und dabei hilft, sich seiner Vergangenheit zu stellen.

Paul Tremmel ist mit dieser Publikation in der Tat „ein vollkommener Text […] gelungen“, wie Felix Mitterer in seinem Vorwort anmerkt. Und dies aus mehreren Gründen. Hervorzuheben ist zunächst die souveräne Beschreibungskunst des Autors, der ein kulturgeschichtlich fundiertes Porträt des inneralpinen Österreich von den Siebzigerjahren bis zur Jahrtausendwende zeichnet. Desgleichen sind wir dem Autor zu Dank verpflichtet, dass er trotz der Tristesse dieser Geschichte nicht der Versuchung des Kitschs erliegt. Lobenswert erscheint zudem der Umstand, dass sich dieser Antiheimatroman in der Tradition eines Innerhofer und Bernhard insofern literarisches Neuland erobert, als er die seelische Reifung des benachteiligten Hinterwäldlers ebenso konsequent wie behutsam vorantreibt. Von Niederlage zu Niederlage schreitend, gewinnt der ungeschlachte Protagonist dieses beschädigten Lebens zusehends die Sympathie der Leserschaft, indem er sich als Geschlagener nicht geschlagen gibt. Auf diese Weise schafft er es schließlich, über sich hinauszuwachsen und jene menschliche Größe zu erlangen, die es ihm erlaubt, sich mit seiner Familie und den ihm zugefügten Verletzungen auszusöhnen. Um dieses Wunder zu vollbringen, bedarf es weder einer Psychoanalyse noch professioneller Begleitung, sondern vielmehr der beglückenden Erfahrung des Mitgefühls und der Mitmenschlichkeit, mithilfe deren der Tremmel’sche Held die heimatlichen Berge zwar nicht versetzt, wohl aber überwindet, wie er auf einer Ansichtskarte aus Italien schreibt: „Ich bin im Süden angekommen! Hansi.“

Wenn der junge Kaiblinger nach langen Irrwegen und inneren Kämpfen nach Ilg zurückkehrt, dann ist er nicht mehr der beschränkte Bauerntölpel, sondern tritt als Lichtgestalt, als Erlöser von Schmutz und Hässlichkeit auf – ein literarischer Schachzug, mit dem Tremmel überzeugt.

Prantztal.
Roman.
Wien: Edition Splitter, 2021.
136 Seiten, kartoniert.
ISBN 978-3-9504406-6-1.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 18.02.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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