Vor vier Jahren stellten sich in Oberösterreich sechs Germanistinnen und Germanisten zum ersten Mal der Aufgabe, ein Jahrbuch der österreichischen Literatur herauszugeben und fanden für dieses Unterfangen im Linzer Adalbert-Stifter-Institut einen organisatorischen und finanziellen Träger. Das Ergebnis war „Lynkeus 1. Ein Rund- und Rückblick auf die österreichische Literatur des Jahres 1999.“ Mittlerweile sind auch „Lynkeus 2“ und „Lynkeus 3“ unter meiner Herausgeberschaft erschienen, und ich gestehe, dass ich mich gefreut hätte, wenn Praesent-Herausgeber Michael Ritter unser Jahrbuch zumindest in einem Nebensatz erwähnt hätte.
Wie auch immer, unser „Lynkeus“ hat nun einen – aber nein, keinen Konkurrenten, sondern einen Artgenossen bekommen. In der Edition Praesens erschien praesent 2002, ein Jahrbuch, in dem das literarische Geschehen in Österreich von Jänner 2000 bis Juni 2001 dokumentiert wird. Die Publikation ist in drei große redaktionelle Teile gegliedert. Zunächst gibt eine Chronik Auskunft über Ereignisse im österreichischen Literaturgeschehen, dokumentiert Festivals, Ausstellungen und Symposien, gibt Kurzberichte über Entwicklungen in der Verlagslandschaft und an anderen Orten der literarischen Infrastruktur u.a.m.
Ein zweiter, mehr als hundert Seiten starker Teil enthält Aufsätze zur österreichischen Gegenwartsliteratur und zur literarischen Szene. Der Bogen des Gebotenen reicht von Autorenporträts (Jandl, Artmann, Röggla) über Internet-Literatur, Reflexionen zum Ingeborg-Bachmann-Preis und die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur bis hin zum Blick über die Landesgrenzen hinaus. Dieser Blick geht diesmal in die Niederlande, wo bekanntlich Autoren wie Leon de Winter oder Harry Mulisch schreiben, also Autoren, die auch in Österreich viele Leser gefunden haben. Michael Ritter ist es gelungen, kompetente Beiträgerinnen und Beiträger zu finden, darunter auch prominente Namen wie Wendelin Schmidt-Dengler und Michael Köhlmeier. In „Daten und Fakten“, dem 3.Teil von „Praesent“, gibt der Herausgeber einen systematischen Überblick über literarische Neuerscheinungen, Preisverleihungen und Jubiläen.
Für ein Unternehmen dieser Größenordnung braucht ein Herausgeber ein gewisses Selbstbewusstsein. Michael Ritter hat es, denn schon im Editorial weist er uns darauf hin, dass wir es hier mit einem „unverzichtbaren Lese- sowie Sammelwerk“ zu tun haben. Nach kritischer Prüfung seines so stolz präsentierten „Praesents“ bin ich geneigt ihm zuzustimmen. „Praesent 2002“ ist nicht nur informativ, facettenreich und sorgfältig redigiert, sondern auch sehr ansprechend gestaltet. Lediglich einen kleinen Einwand mag er mir zugestehen. Zweifellos ist es unmöglich, jedes literarische Lebenszeichen in Kleinst- und Eigenverlagen zu beachten, aber in „Praesent“ dominieren doch sehr deutlich die großen Namen der österreichischen Gegenwartsliteratur, die Klassiker zu Lebzeiten. Das weniger Beachtete, die kleineren Uraufführungen, die Hörspiele, die Literatur an den Rändern des Feuilletons, kommt auch in „Praesent“ bestenfalls kleingedruckt am Rande vor.
Am Ende bleibt freilich immer noch die (für Österreicher vielleicht nebensächliche) Frage offen, ob ein Jahrbuch der österreichischen Literatur überhaupt noch einen empirischen Gegenstand hat. Bricht nicht die Dämmerung der Nationalstaaten an und mit ihr das Ende der nationalen Literaturen? Gibt es sie überhaupt noch, die österreichische Literatur? Und wenn nein, was beinhaltet dann eigentlich ein Jahrbuch der österreichischen Literatur? – Selbst wenn die Grenzen verschwimmen und die Verlagslandschaft innerhalb des deutschsprachigen Raums nationale Spezifika relativiert, ist es nicht zu übersehen, dass die von österreichischen AutorInnen geschriebene Literatur sehr wohl regionale Besonderheiten in der Themenwahl und in der Sprache aufweist.
Zweifellos kann es längst nicht mehr darum gehen, durch das Medium Literatur oder gar durch ein Literaturjahrbuch eine Österreich-Identität zu konstruieren, schon gar nicht einen Nationalmythos, der uns aufgrund unserer verhängnisreichen Geschichte im 20.Jh. ohnedies nie so recht gelingen wollte. Aber eine Region mit individuellem Profil ist dieses Österreich innerhalb des neuen Europa doch geblieben – mit allen Vor- und allen Nachteilen. Das ist auch an vielen literarischen Neuerscheinungen der letzten Jahre ablesbar. Dass dem literarischen Leben Österreichs die Chronisten nicht fehlen, dafür haben österreichische Jahrbücher zur Gegenwartsliteratur zu sorgen. prasent 2002 erfüllt diese Aufgabe überzeugend.