#Prosa

Portraits / Im Irrgarten der Bilder

Gerhard Roth

// Rezension von Janko Ferk

Gerhard Roth ist – nach dem Tod Thomas Bernhards – einer der ganz wenigen im Land lebenden österreichischen Großschriftsteller. Ab dem Jahr 1978 hat er konsequent an dem siebenbändigen Zyklus Die Archive des Schweigens, der in der Südsteiermark und in Wien angesiedelt ist, und den er 1991 abschloss, gearbeitet. Ab dem Jahr 1993 verfasste er den Zyklus Orkus, den er 2011 beendet hat. Daneben ist nach und nach ein Werk entstanden, das für andere Schriftsteller schon ihr opus magnum“ wäre, die Portraits aus den letzten drei Jahrzehnten. Roth hat diese Menschenbilder vornehmlich für Zeitungen und (Literatur-)Zeitschriften geschrieben, beispielsweise für Die Presse oder das Zeit-Magazin.

Roth hat seinen Blick auf Menschen gerichtet, die zu den bemerkenswertesten oder – wie es der Verlag nennt – „größten“ ihres Fachs gehören (das Bombenhirn Franz Fuchs, von dem noch die Rede sein wird, nehme ich ausdrücklich aus), wobei profunde Essays entstanden sind. Dem Autor gelingt es, und zwar in einer Qualität, die an einzelnen Stellen an Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit heranreicht, einerseits die charakteristische Individualität und andererseits den Hintergrund der Portraitierten festzustellen. Störend ist einzig und allein, dass dieser Mann ausschließlich Männer beschreibt – und keine einzige Frau, weil ich nicht glaube, dass er nicht auch auf beeindruckende Frauen aufmerksam hätte werden können.

In der Gesamtheit entstehen von den Menschen Bilder, in denen ihre Möglichkeiten aufgezeigt werden und sie an ihre Grenzen stoßen, das heißt mit anderen Worten, lesbar werden Träume, sichtbar wird allenfalls das Scheitern. Die Voraussetzung für fast alle Portraits (Roth schreibt etwa auch über Vincent van Gogh) waren entweder intensive Begegnungen  Elias Canetti beispielsweise hat er in den Jahren 1973, 1975 und 1981 getroffen oder langjährige Freundschaften. Roth erklärt den Zugang zu den einzelnen Personen mit den Parametern von Zeit, Ort und Anlass. Frisch hat er in Zürich getroffen, Kreisky nach Belgrad begleitet und Wiesenthal in seinem Büro in Wien besucht. Franz Fuchs diagnostiziert er naturgemäß aus der Ferne, aber treffend, wobei das Urteil „treffend“ für alle Portraits gilt.

Zwei Typen fallen unter den Porträtierten auf, die Schriftsteller und Maler, vor allem Wolfgang Bauer, Thomas Bernhard, Elias Canetti, Max Frisch, Eugène Ionesco und Tennessee Williams sowie die künstlerischen Außen- und Innenseiter Bruno Gironcoli, Franz Gsellmann und August Walla – verschiedener könn(t)en schöpferische Gestalten kaum sein. Die nachhallende Bekanntheit des steirischen „Weltmaschinen“-Erfinders Franz Gsellmann dürfte überhaupt auf Gerhard Roth zurück zu führen sein, der als erster wirkungsvoll über ihn geschrieben hat.

Über diese Personen hinaus spannt sich der Bogen mehr als weit, und zwar vom steirischen Bombenleger Franz Fuchs über den „Künstler für alles“ André Heller, den legendärsten aller österreichischen Politiker, Bruno Kreisky, den einzigartigen Fußballtrainer Osim, den Roth – fast wie ein Beamter – Ivan und nicht Ivica nennt, bis zum konsequenten Nazijäger Simon Wiesenthal. Und gesagt sei, ein Porträt ist interessanter als das andere. Bilder von Dichtern und Denkern, Exzentrikern, Geheimnisträgern und Genies, letztlich auch von einem der größten Verbrecher der österreichischen Kriminalgeschichte, von einer Randexistenz, die den Autor gleichermaßen fasziniert wie die Großen dieser Welt und Zeit.

Roths Sprache ist eine berichtende, feststellende, fragende, konstatierende und nicht selten affirmative, obwohl die Persönlichkeiten von Wolfgang Bauer über Bruno Kreisky bis Simon Wiesenthal keiner Bekräftigung bedürfen.

Illustriert werden die Sprachbilder mit Aufnahmen, die in den meisten Fällen den Autor mit den Porträtierten darstellen, allerdings nicht von besonderer Qualität sind, Roth mit Frisch, Roth mit Walla, Roth mit Williams, Kreisky und Heller ohne und so weiter.

Das Buch klingt mit einem Brief an den verstorbenen Freund Wolfi (Bauer) aus, was dem Buch letztlich eine sehr persönliche Note gibt.

Zur ziemlich gleichen Zeit ist ein weiteres Roth-Buch erschienen, der Fotoband Im Irrgarten der Bilder über Die Gugginger Künstler. Mit seinen Aufnahmen ermöglicht Roth, der auch als Fotokünstler durchaus reüssieren könnte, einen Einblick in die fantastische Bilderwelt der Künstler in der Landesnervenheilanstalt in Gugging, in der Nähe von Wien.

Roth hat das Krankenhaus im Jahr 1976 zum ersten Mal besucht, als noch der legendäre Leo Navratil Primararzt war. Das „Haus der Künstler“ wurde erst später eingerichtet. Die tiefgreifende Auseinandersetzung mit Johann Hauser, Oswald Tschirtner und August Walla, mittlerweile bekannte Namen in der Kunstwelt, hat Gerhard Roth sozusagen geprägt. Beeindruckt haben ihn die Persönlichkeiten und ihre Kreativität.

Der Irrgarten dokumentiert eine fünfunddreißig Jahre dauernde Begegnung, und zwar mit Bildern sowie Texten des Autors. Mehr als 300 Fotografien zeigen ein tiefes Verständnis für das Leben und Schaffen dieser außergewöhnlichen Menschen in Gugging, wobei es wiederum ausschließlich um Männer geht, in diesem Fall jedoch aus medizinischen und verwaltungstechnischen Gründen.

Alles in allem, um die Phrase berechtigt zu wiederholen, ist das Werk des österreichischen Schriftstellers Gerhard Roth ziemlich erstaunlich, polychrom und fertig.

Portraits.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2012.
317 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-10-066065-7.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Im Irrgarten der Bilder. Die Gugginger Künstler.
St. Pölten: Residenz Verlag, 2012.
324 Seiten,
gebunden, farbig illustriert.
ISBN 978-3-7017-32722.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 31.05.2012

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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