#Sachbuch

Pop in den 20er Jahren

Maren Lickhardt

// Rezension von Hermann Schlösser

„Ein Popstar wird 250“: So läutete „Der Spiegel“ im November 2019 das bevorstehende Beethovenjahr ein. Der Artikel, der diesen Titel trägt, ist eine einzige Hommage; die Verfasserin Susanne Beyer wollte dem alten Meister zweifellos einen Gefallen tun, indem sie sein Leben und Werk einer Zentralkategorie der zeitgenössischen Ästhetik untergeordnet hat. Ob die Bezeichnung „Popstar“ der Statur des Wiener Klassikers gerecht wird oder nicht, ist dabei vollkommen unerheblich. Wichtig ist nur, dass der Komponist des schönen Götterfunkens in dem pop-kulturellen Diskurs verankert wird, der maßgebliche Bereiche des Feuilletons formatiert, seit man in den frühen 90er Jahren die Metropolenästhetik und den Lebensstil der Leichtigkeit neu entdeckt hat.

 

Auf den ersten Blick könnte der Literaturwissenschaftlerin Maren Lickhardt eine ähnliche Tendenz unterstellt werden wie der Journalistin Susanne Beyer. Denn auch sie macht in ihrem 2018 erschienenen Buch vom Begriff „Pop“ einen anachronistischen Gebrauch. Wie sie selbst ausführt, war in der Zwischenkriegszeit weder im Deutschen noch im Englischen von „Pop“ die Rede. Erst ab den mittleren 50er Jahren lässt sich der Begriff im Kontext der bildenden Kunst, der Musik, der Literatur und der Lebensstilistik nachweisen. Dennoch hält die Verfasserin es für sinnvoll, das Konzept rückzudatieren und auf ausgewählte amerikanische und deutschsprachige Autorinnen und Autoren der späten 20er und frühen 30er Jahre anzuwenden: Scott und Zelda Fitzgerald, Klaus und Erika Mann, Anita Loos, Ruth Landshoff-Yorck, Irmgard Keun, Vicki Baum, Lili Grün, Erich Maria Remarque, Robert Neumann, Walter Serner – sie und noch einige andere tragen in Lickhardts Darstellung zur Ausbildung eines Schreib-, Lese- und Lebensstils bei, den man als Vorläufer dessen ansehen kann, was später „Popkultur“ genannt wurde. Damit ist kein werbewirksames „Umlabeln“ beabsichtigt (wie es im „Spiegel“ mit Beethoven vorgenommen wurde), sondern eine plausible historische These formuliert: Da die Sache älter ist als der Begriff, der sie bezeichnet, ist es gerechtfertigt, „Pop in den 20er Jahren“ detailliert zu untersuchen.

Es geht in dem Buch nicht um eine Ausschöpfung bisher übersehener Sinnpotentiale von Texten wie „The Great Gatsby“, „Gentlemen prefer Blondes“, „Das kunstseidene Mädchen“ oder „Menschen im Hotel“. Die Literaturwissenschaftlerin interessiert sich nicht für die Kunst der Textinterpretation. Stattdessen stellt sie klar, dass die Romane und Feuilletons der genannten Autorinnen und Autoren nicht ausschließlich als gelungene Literatur verstanden werden können. Sie dienten vielmehr der Lebensstilisierung und trugen damit in der Umbruchszeit nach dem Ersten Weltkrieg zur Orientierung bei. Ein Zitat aus dem Buch: „Der Zusammenbruch der alten sozialen Ordnung setzt die Individuen frei, löst sie auf und führt sie – zumindest gefühlt – der Vermassung zu, aber es stehen durch Massenmedien und Massenproduktion Ressourcen zur Verfügung, anhand derer sich neue Identitäten und Differenzen entfalten, sich das Individuum als Teil einer sichtbar definierten Gruppe wieder stabilisiert.“

In diesem Prozess der Selbsterfindung wird die „Pop“ genannte Literatur von Produzierenden und Rezipierenden gleichermaßen genutzt. Lickhardt beschreibt den Pop der 20er Jahre einerseits als einen „Treffpunkt der Diskurse und Stile“, auf dem Zuordnungen wie Klasse, Geschlecht oder Nationalität relativiert oder gar außer Kraft gesetzt wurden. Andererseits betont sie, dass die Frau eine besonders „aktive Agentin der Pop-Kultur“ gewesen ist: Wenn eine Leserin zu Romanen von Vicki Baum griff – einer Autorin, deren Texte so maßgeschneidert waren wie ihre Garderobe – dann signalisierte sie schon durch die Wahl dieser Lektüre ihre Zugehörigkeit zur zeitgemäßen Lebensstilgruppe der „Neuen Frau“. Und wenn Gilgi, die Hauptfigur von Irmgard Keuns Roman „Gilgi – eine von uns“, kundtat, dass „ihr Schal nach Chypre duftet“, dann war die Nennung des Markennamens nicht nur ein Stilmittel zu Charakterisierung der Figur, sondern zugleich eine Anweisung an die Leserinnen: Willst auch du „eine von uns“ sein, dann sei Chypre von Coty dein Parfüm! Angesichts dieser Verwendung verliert die Literatur den Status des autonomen Kunstwerks und gewinnt die Qualität der Konsumentinnenberatung.

Diese Grenzüberschreitung ist eine der vielen Facetten der „Poppigkeit“, die Maren Lickhardt an einem Textkorpus wahrnimmt, der in herkömmlichen Literaturgeschichten meist der „Neuen Sachlichkeit“ zugeordnet wird. Die Pop-Dynamik setzt auch die alte Literaturwissenschaftlerregel außer Kraft, der zufolge zwischen Autor und Text streng zu unterscheiden sei. Wie überzeugend gezeigt wird, funktioniert Pop-Literatur dann am besten, wenn Autoren oder Autorinnen mit ihren Texten identifiziert und die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion bis zur Unkenntlichkeit verwischt werden.

Der Begriff „Pop“ bezeichnet also – bei vielen Differenzierungen im Einzelnen – einen Ästhetisierungsprozess: Wer popbeschwingt lebt und liest, nähert sich den Kunstwerken nicht in passiv-kontemplativer Haltung. Stattdessen animiert die Popkultur dazu, das Leben nach den Vorgaben der gerade aktuellen literarischen, cineastischen oder designerischen Strömung zu gestalten, und es nicht so hinzunehmen, wie es eben ist. Die ungerichtete Zufälligkeit des modernen Alltagslebens – „Kontingenz“ in philosophisch-soziologischer Terminologie – ist die Herausforderung, auf die Pop eine mögliche Antwort gibt. Angestrebt wird hier jedoch nicht die Überwindung der Kontingenz, etwa durch emphatische Authentizität, sondern deren stilisierte Inszenierung unter dem Vorzeichen des „als ob“. Dass dabei ein Zug von Hochstapelei im Spiel ist, verschweigt Lickhardt nicht, sie sieht aber vor allem die kreative Leistung der Selbststilisierung: „Hier gilt: Zeige mir, wie du konsumierst, und ich erkenne, als was du dich gibst.“ Von Bedeutung ist also der äußere Eindruck, und wer nun in bekannt kritischer Manier einwendet, dass „die Wahrheit anders aussieht“, ist ein Spielverderber.

In früheren Zeiten haben andere Lebensstilgruppen schon ähnliche Programme befolgt, so etwa die Dandys des 19. Jahrhunderts oder die geistesaristokratisch zurückgezogenen Künstler der Jahrhundertwende, die man als „ästhetische Menschen“ bezeichnet hat. Das weiß auch Maren Lickhardt, aber sie legt mehr Wert auf den Unterschied zwischen Pop und anderen Ästhetizismen. Hatten ältere Formen der Lebensstilisierung immer einen elitären, sozial exklusiven Zug, ist Pop eine durch und durch massentaugliche, und damit auch demokratische Option. Die Role Models sind zwar glamouröse Stars, aber sie treten nicht nur in den Salons der oberen Zehntausend auf, sondern zeigen sich ihren Fans in populären Filmen und vielgelesenen Illustrierten. Von dort entfalten sie ihre Wirkung auf alle, die sich dem schönen Schein überlassen und ihn so zu ihrer Wirklichkeit machen. Diese positive Bezugnahme auf das massenmedial Verbreitete macht das Populäre im Pop aus. Aber das bewusste, auch ironische Spiel mit den allseits verbreiteten Klischees erhebt das Poppige zugleich in den Rang einer Kunstform, die sich vom schlicht Volkstümlichen ebenso markant unterscheidet wie von der tradierten Hochkultur. Überdies unterscheidet die Untersuchung den Pop auch vom Dadaismus und anderen Avantgarderichtungen. Während die Avantgarden Widerspruch oder gar Widerstand gegen eine als schlecht empfundene Realität artikulieren, ist die Grundhaltung des Pop demonstrativ unkritisch.

Pop, wie Lickhardt ihn versteht, ist weder ein Massen-, noch ein Elitenphänomen. Obwohl er sich vor allem um Luxus, Glamour und Reichtum dreht, lässt sich seine Eleganz auch mit geringen finanziellen Mitteln erreichen: durch Imitation, Remake und Pose. Um ein Beispiel zu konstruieren: Die schlecht bezahlte Sekretärin, die sich das Chypre-Parfüm nur leisten kann, wenn sie dafür tagelang auf das Essen verzichtet, tut gut daran, ihren Geldmangel zu verschweigen und sich von den Komplimenten für ihre schlanke Figur zu ernähren. Eben diese Entschlossenheit zur perfekten Pose bewundert Maren Lickhardt etwa an der Berliner Autorin Ruth Landshoff-Yorck, die sie in einer weiteren anachronistischen Zuschreibung als „It-Girl“ der Zeit bezeichnet und mit dem feschen Satz zitiert: „… es steht jedem Mitmenschen frei, sich der guten Meinung, die wir von uns hegen, anzuschließen“. Dagegen schränkt sie die popkulturelle Leistung der Wiener Autorin Lili Grün ein wenig ein (ohne dadurch deren literarische Qualität in Abrede zu stellen): Die meist arbeitslose Schauspielerin Elli, Hauptfigur des Romans „Herz über Bord“ wäre auch gerne ein It-Girl. Aber ihr gelingt die makellose Stilisierung nicht, weil sie den Kummer über den Geldmangel und die Wut über die ungleich verteilten Güter nicht so lässig überspielen kann, wie es im Interesse des Impression Management angebracht wäre. Diesen Konflikt zwischen Wollen und Können beschreibt Lili Grün sehr feinfühlig, was den Roman psychologisch interessant, aber popkulturell inkonsequent werden lässt. Zweifel am Rollenspiel sind nicht vorgesehen, wenn man als Star im Film des eigenen Lebens reüssieren will.

Der Starkult und andere Oberflächlichkeiten der Massenmedien waren in der Zwischenkriegszeit nicht nur Anlass zur Imitation, sondern auch Gegenstand kulturkonservativer Sorge und gesellschaftskritischer Analyse. Lickhardt zitiert einige dieser Kritiker, wobei sie, die bei Duftnoten, Automarken und Urlaubszielen dem Spiel der feinen Unterschiede höchste Bedeutung beimisst, die ideologischen Differenzen weniger genau nimmt. Der rückwärtsgewandte, massenfeindliche Meinrad Inglin und der kapitalismuskritische Marxist Ernst Bloch erscheinen ihr als gleichermaßen pessimistische Kulturmenschen, die das Neue (und damit wohl auch Gute) des Pop nicht ermessen können. So zeigt sich, dass Maren Lickhardt, Assistenzprofessorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Innsbruck, ihren Gegenstand nicht aus analytischer Distanz anschaut, sondern von innen, als aktive Mitgestalterin jener nach wie vor virulenten Lebenskunstbewegung namens „Pop“. Dem entspricht auch der Stil ihrer material- und gedankenreichen Arbeit: teils theoretisch anspruchsvoll, teil umgangssprachlich locker.

In Deutschland wurde dieser metropolitanen, spielerischen, reizvollen, unernsten Kultur, die Maren Lickhardt „Pop“ nennt, durch Hitlers Machtergreifung ein Ende gemacht. Die namhaften Akteurinnen und Akteure mussten Deutschland verlassen (allerdings nicht nur, weil sie poppig, sondern auch und vor allem, weil viele von ihnen jüdischer Herkunft waren). Viele gingen nach Amerika, dem Land, in dem sich später jener Pop entwickelte, der tatsächlich diesen Namen trug. Die Autorin kommentiert diesen Einschnitt mit dem Satz: „Ab 1933 wurde dieser Diskurs brutal unterbunden, weil die ihm inhärente moderne und zivilisierte Transgressivität sowie die Möglichkeit, produktiv mit Kontingenz umzugehen, für manche/viel zu viele nicht erträglich war.“ Im Schlusskapitel ihres Buches stellt sie dar, dass die Nonchalance der Popkultur eine immunisierende Wirkung gegen die fanatischen Glaubensbekenntnisse der Nationalsozialisten ausgeübt habe, aber gerade deswegen von den Nazis bekämpft worden sei. Deshalb bezeichnet sie den Faschismus als „Anti-Pop“. Sie beruft sich unter anderem auf Klaus Mann, den sie in einem früheren Kapitel als Dandy zeitgemäßen Stils gewürdigt hat: In seinem Roman „Treffpunkt im Unendlichen“ habe Mann schon 1932 eindringlich beschrieben, dass diejenigen, „die sich ihrerseits – von hedonistischer Kontingenz – bedroht fühlen“, eine ernsthafte Gefahr für alle ihre Feinde darstellten. Wer könnte dem widersprechen?

Über Maren Lickhardts animierende Arbeit hinaus soll aber doch angemerkt werden, dass derselbe Klaus Mann im Exil nicht nur mit dem nationalsozialistischen Gegner kritisch umgegangen ist, sondern auch mit dem Weimarer High Life, dem er sich selbst überlassen hatte. Er machte sich und seinen Freunden den Vorwurf, aus purer Selbstverliebtheit die Gefährlichkeit des Gegners verkannt zu haben. 1938 hielt Klaus Mann in den USA mehrmals den Vortrag „Die Kriegs- und Nachkriegsgeneration“, in dem er über die apolitischen ästhetischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit das Urteil sprach: „Sie waren vielleicht ein wenig spielerisch: ich darf es aussprechen, denn ich muß mich selber zu dieser Gruppe rechnen. Erst allmählich mußten sie dazu erzogen werden, die politische und soziale Problematik so durchaus ernst zu nehmen, wie sie es von uns allen verlangt. Der Fascismus [sic] war die harte Schule für die jungen Intellektuellen. Erst angesichts der Greuel des Fascismus begriffen wir, was es auf sich hat mit Begriffen und mit Werten wie ‚Freiheit‘, ‚Fortschritt‘, ‚Demokratie‘. Sehr gründlich verging uns die Lust, diese großen Worte mit einem gewissen Sarkasmus auszusprechen – wozu wir früher vielleicht manchmal aufgelegt gewesen waren. Allmählich verstanden wir ihren Ernst.“ (In: Klaus Mann: Die Heimsuchung des europäischen Geistes, Aufsätze, herausgegeben von Martin Gregor-Dellin, München 1973). Dieser Befund, den Maren Lickhardt nicht zitiert, mag als Schlusswort zum Thema „Pop“ ein wenig unentspannt erscheinen. Aber irgendwie gehört er zur Sache und gibt am Beginn der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts zu denken.

Maren Lickhardt Pop in den 20er Jahren
Leben, Schreiben, Lesen zwischen Fakt und Fiktion.
Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2018.
270 S.; geb.
ISBN 978-3-8253-6660-5.

Rezension vom 08.01.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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