#Prosa

Polyphems Garten

Birgit Schwaner

// Rezension von Lisa Spalt

Zunächst wird in Polyphems Garten die Pseudozeit des Erzählens beschworen: Ja, selbst die Zeit ist in dieser Dystopie unecht. Die Künstlichkeit der Welt, von der erzählt wird und die doch so negativ dargestellt ist, trifft seltsam verstörend auf die fröhliche Künstlichkeit der Erzählung, als sei sie darin irgendwie angelegt. Das wirkt angesichts dessen, dass diese erzählte Welt die Welt des Buches auslöschen will, eigenartig bedrohlich: das „Poein“ – das „Machen“ der Dichtung – scheint mit dem Erzeugen, das die Welt dieser Polyphem Corporation so sehr beherrscht, verwandt.

Es liegt dem einen wie dem anderen zugrunde (ein schönes Symbol, dass die geheime Bibliothek des Polyphem gerade unterhalb seines Herrschaftsbereichs liegt, jenen sozusagen fundiert). Und umso deutlicher wird dies, wenn in diesem Polyphem’schen Reich die Waren gerade wie früher die Texte ausgedruckt werden. An die Stelle jedoch des – nun verbotenen – Lesens ist das stundenlange Verharren vor dem „Wysiwyg“ getreten, mit dem die so genannten Meisten zum Konsumieren, zum Ordern von Waren gebracht werden: Die Poesie, das Machen der Bücher war früher. Dann gab’s die Übergangsphase, in der das Buch noch als digitales „Streamy“ konstruiert wurde; schließlich überhaupt keine Konstruktion in der Schrift mehr, Konstruktion nur noch in Form solider Realität. Und so ist das Zeitalter der Mündlichkeit, das man vor langer Zeit verlassen, wiedererstanden, ein Zeitalter ohne Geschichte. Viele Wörter haben infolge dieser Entwicklung völlig ihre Bedeutung gewechselt wie beispielsweise die Tier- und Pflanzennamen, die jetzt an ihre künstlichen Pendants vergeben sind und für die jüngeren BewohnerInnen des Polyphemschen Herrschaftsbereichs auch nur noch diese, die dann nicht mehr als Nachbauten empfunden werden, bezeichnen. Schließlich aber ist es in gewisser Weise das Odysseus-gleiche Wort selbst, dessen Denotat sich hier als Niemand entpuppt: keine Lesenden mehr, die es beobachten, wie es sich durch die Geschichten bewegt, wie es auf der Zeitachse immer wieder auftaucht. Nun flottieren die Namen aus den Mythologien (Scylla, Odysseus, Polyphem) postmodern entfesselt und sinnentleert herum. Durch die Wirtin Gina scheint die Vorleserin Nina. Unter den Anfangsbuchstaben der Polyphem Corporation, dem Monopolisten in Sachen Sicherheit, lauert vielleicht der PC?

– Da ist diese Protagonistin Nina, eine zeitgemäße Verkörperung des homerschen Niemand, Vorleserin und von daher im Visier des ubiquitären Überwachungssystems Polyphem Corporation. Sie scheint natürlich zur „MS Nina“ angesichts der Knappheit der Schwanerschen Sprache gleich in einer Beziehung zu stehen. Doch fallen wir nicht auf die Namensgleichheit rein – schon zieht uns der Text an den Ohren: Wir sollen derartiges Konstruieren lassen. Es führt in die Irre, wir sollen nicht an die Namen glauben, die Wörter täuschen, die Story ist Illusion. Darauf muss immer wieder hingewiesen werden. Ja, dem Glauben muss insgesamt abgeholfen werden. Und falsche, als solche enttarnte Fährten taugen dafür ebenso wie diverse Hinweise, dass die Lesenden an dieser oder jener Stelle doch am besten selbst weiterdenken mögen (und also doch wieder konstruieren wollen! Der Text benimmt sich zuweilen tatsächlich wie ein buddhistischer Lehrmeister, der jedwede Freude über eine Gewissheit mit dem lauten Ausruf „Katz“ zerstört, und darin läge vielleicht auch etwas, was uns Literatur lehren könnte).

Eigenartige Tauschvorgänge sind auch unterhalb der Namen im Gange. Was ist zu denken von diesen ganzen Versatzstücken unserer gegenwärtigen Realität, die hier als Zukunft zur Sprache kommen? Von diesen spionierenden Drohnen, der Mauer zwischen Arm und Reich, den implantierten Chips und den Tieren, die infolge von chemischen Unfällen ausgestorben sind? Auch diese real existierenden Versatzstücke der Dystopie werden in Bezug zum Machen gesetzt, gerade indem sie als „Nur-Geschichte“ dargestellt sind, als durch Erfindung erzeugte, als Poesie. Schwaner wendet hier einen interessant distanzierenden Trick an, indem sie, was wir eigentlich schon kennen, als Zukunft inszeniert und so die Ungeheuerlichkeit der Gegenwart erst sichtbar macht. Gleichzeitig wird dieses tote Reich des Polyphem, in dem die Schutthaufen abgestürzter Drohnen sich mit ganzen Staubfeldern von zermahlenen Sedativa abwechseln, durch die Kraft der Literatur seltsam aufgehoben: Schwaner erzählt den leblosen Raum in blumigen, phantasievoll wuchernden Girlanden. Und sie löst außerdem die erzählte Zeit gewissermaßen von zwei Seiten der Zeitachse her auf: Als Geschichte der Zerstörung der Literatur erreicht der Text über eine „Bradburianische“ Flaschenpost das Ufer dieses traurigen Gestades (hier sei ein Hinweis einerseits auf die Flaschenpost-Texte der Autorin und andererseits den Science-Fiction-Autor Ray Bradbury angebracht). Diese Geschichte in der Flasche führt nun einerseits zum Zeitraum der Erzählung hin. Jedoch liegt jener dann auch schon wieder weit hinter der Zeit, die in der Erzählung Polyphems Garten vorgestellt wird, denn jene erzählt schließlich bereits von ihm?

Schließlich haben die vorgeführten Gegenstände hier eine eigentümliche Art – auch zeitlich und moralisch – doppelt besetzt zu werden; einmal zum Beispiel als Spielzeug und Ausbund überbordender Phantasie, einmal als Produkt, das den Menschen als Ersatz natürlichen Lebens untergeschoben wird: Einerseits haben wir da diese Blechspatzen, die Tante Oda hergestellt hat und die nach einer kleinen Manipulation durch den Ingenieur Ping nach Tzara’scher Art Versatzstücke aus dem I-Ging, der Johannesoffenbarung und dem Taschenlexikon für Kybernetik durcheinanderwürfeln (es entstehen hier sehr feine, kleine Poesieleckerbissen). Diese Tierchen haben Steam-Punk-Charme! Andererseits kündigen sich in den hübschen Objekten schon die künstlichen Vögel aus Polyphems Reich an, die die durch eine kriegsbedingte Verseuchung ausgerotteten Tiere ersetzen. Künstlichkeit ist also nicht Künstlichkeit, sie ist aber immer moralisch besetzt.

Als Literatur ist dieser Text, der auf mehreren Ebenen gelesen werden kann. Als einer, der vom Verlust des Wissens erzählt, lässt er noch mehr Verbindungen zu, wenn einige Texte der griechischen Mythen, aber auch der Science Fiction bekannt sind. Er ist ein Plädoyer für das Wissen und die Geschichtlichkeit. Natürlich ist es in erster Linie die Geschichte von Odysseus und Polyphem, die dem Text zugrunde liegt. Aber auch Kleists Marionette erfährt hier eine sehr gewagte Umdeutung: Zu erwarten wäre in solchem Kontext die Beschwörung des Menschen als Marionette der Macht. Schwaner aber heftet metaphorisch halsbrecherisch Fäden der Phantasie, Assoziationsausläufer an die Puppe und erklärt über diese deren graziöse Bewegungsform. Polyphem könnte nun mit dem Hinweis kontern, man sehe es hier wieder, wieso die Phantasie, das Lesen so verpönt etc.: Kleist habe schließlich Selbstmord begangen. In Wirklichkeit aber hat diese Welt alle Literatur, alle Mythen, längst vergessen.

Ständig werden Dinge erfunden, die es längst schon gegeben hat: „Alles neu, weil alles vergessen“, heißt es gegen Ende des Texts. Das Erinnern scheint mit den Kulturtechniken der Schrift und des Lesens verloren. Hier aber liegt auch die Achillesferse des Systems: Es ist das Erinnern, das Wissen, ergo die Bibliothek, die der Macht gefährlich werden kann? Eben hat der Ingenieur Ping noch für Polyphem „Kreatorköpfe“ produziert. Sie sollen Kunst hervorbringen und Polyphem – so versteht jener die Sache –  zum Künstler machen. Doch Ping und Nina sind dabei, in die unterirdische Bibliothek, die sich Polyphem eingerichtet hat, einzubrechen, um die Menschheit mithilfe von Büchern, mithilfe von Wissen, wachzurütteln: Man nähert sich Marx, den Menschenrechten, Jean Paul, Sappho, Arno Schmidt, Gertrude Stein und Asterix; man will die „Wysiwigs“ kapern, um die alten AutorInnen darüber bekannt zu machen, der Welt ihre Reflexionsfähigkeit wiederzugeben. Noch einmal kehrt der Text zurück zur Reflexion des „Poein“, des Machens: Er hat diese Welt der Polyphem Corporation produziert, ihre Gesetze und Gegenstände – gewissermaßen die Wörter und die Grammatik einer Zukunft – bereitgestellt – und es ist gewissermaßen unsere Welt, die da erzeugt worden ist. Nun muss es ans Handeln gehen. Ab hier selbst weiterlesen!

Polyphems Garten.
Erzählung.
Wien: Klever Verlag, 2013.
90 Seiten, broschiert.
ISBN 978-3-902665-61-4.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 01.06.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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