Das ist ein prinzipiell begrüßenswertes Projekt, die Frage ist allerdings, ob man heute wirklich einen kanonisierten status quo der Bernhard-Forschung behaupten kann. Eine Bemerkung im Vorwort lässt befürchten, dass die AutorInnen gegen etwas polemisieren, was sich in der derzeit extrem pluralistischen Bernhard-Forschung längst erledigt hat: das Bild vom Autor, der als „Konstrukteur monomanischer Sprechfiguren … von einer grundlegend pessimistischen Position aus … in musikalisch organisierten Wiederholungsstrukturen die Themen Tod, Krankheit, Provinzialismus und Faschismus“ umkreise. Das öffentliche Bild Bernhards war tatsächlich lange Zeit auf das „düstere“ Frühwerk fixiert, doch dass es einen „Bruch“ gegeben hat, dass Bernhard „Korrekturen“ vorgenommen hat und dass das Spätwerk um einiges „optimistischer“ ist, gehört mittlerweile auch schon zum angeprangerten status quo der Bernhard-Forschung.
Harald Neumeyer – nochmals: man wüsste gerne, was die AutorInnen sonst machen – stellt in seiner Arbeit über „Kalkwerk“, eine wichtige Überlegung an, die vielleicht verständlich macht, gegen welchen status quo der Band polemisiert: der Roman stelle seine Lesbarkeit mehrmals in Frage, das war wohl ein absichtsvolles Verfahren Bernhards, der seine Texte möglicherweise systematisch gegen ein allzu schnelles Verstehen abgedichtet hat und eine seiner Bühnenfiguren stolz feststellen ließ, dass die Dichtung dem interpretierenden Volk unerreichbar sei. Neumeyer schlägt hier folgenden Ausweg vor: Bernhard setze durchaus einen Referenzpunkt, der allerdings nicht in den Wahrnehmungsbereich einer textimmanent operierenden und / oder geistesgeschichtlichen Hermeneutik falle. Das ist eine diskutable These, doch Bernhards Lebenswerk gegenüber ist sie erst dann berechtigt, wenn die Möglichkeiten der beiden hier angesprochenen Hermeneutiken voll ausgeschöpft sind. Die Einzeltexte Bernhards sind in der Regel hermetisch, doch sie werden in der Verklammerung mit anderen Texten verstehbar – Rätsel eines Werkes werden in einem oder mehreren anderen aufgelöst. Um etwa zu verstehen, warum Konrad an seiner Studie scheitert, hat es nur wenig Sinn, sich exklusiv auf „Kalkwerk“ zu konzentrieren – die Antwort (und die möglichen Alternativen) finden sich in Texten wie „Beton“, „Die Billigesser“ oder „Auslöschung“. Wer sich nur auf ein Werk konzentriert – und das geschieht in vielen Beiträgen des Bandes – macht leicht interessante Funde, die manche Interpreten in einen rauschhaften Zustand versetzen: Bernhard, über dessen Lektüre wir noch immer zu wenig wissen, war in jedem Fall ein eifriger Leser des Feuilletons der deutschen Qualitätspresse und Versatzstücke der Tradition und des Zeitgeistes durchziehen sein Werk. Man kann – „Bildung“ vorausgesetzt – in seinem Werk viel finden: Phänomene der Intertextualität, Analogien zu poetologischen und sprachphilosophischen Reflexionen, Parallelen zu künstlerischen Verfahren, Anspielungen auf Musikstücke oder Gemälde und vieles anderes mehr. Doch all das ist nur Beiwerk und hat wenig zu tun mit dem präzise geführten schriftstellerischen Gesamtprojekt, das Bernhard von „Frost“, der Vorstellung seiner zentralen Problematiken, bis zu den Büchern der Lösung dieser Problematiken – „Auslöschung“ und „Alte Meister“ – verfolgte. Neumeyers Studie, enthält insofern einen wichtigen Beitrag zur Bernhard-Forschung, als sie sich breit mit der Methode des Viktor Urbantschitsch beschäftigt, mit der Konrad seine Frau quält, doch gleichzeitig bleiben zahlreiche von Bernhard immer wieder angespielte Topoi unerörtert: das Inzestmotiv etwa inklusive der „Fäustlinge“ und der „Zuckerzange“.
Dass Bernhard mit den Texten des Viktor Urbantschitsch einigermaßen vertraut war, ist plausibel. Doch wenn Angeli Jansehn behauptet, Bernhard hätte sich 1970 mit Gehen beschäftigt und Gehen sei in der zeitgleichen amerikanischen und europäischen Minimal Art und Post-Minimal-Art eines der großen Themen gewesen, dann kennt sie Bernhard schlecht: von „Frost“ über „Ja“ bis „Auslöschung“ ist „Gehen“ eine zentrale, vieldeutige Metapher im Feld der Intellektualität und der Vitalität: in „Watten“ etwa stellt sich die Bernhard selbst nicht fremde Frage, ob der Protagonist nicht mehr „Watten gehen kann“ oder ob er nicht mehr „Watten gehen kann“. Wenn Jansehn den Titel von „Gehen“ zum Anlass nimmt, Bernhard in den Kontext der „nicht weiter reduzierbaren Erfahrung bei Minimal Art“ zu rücken und „gehende Künstler“ wie Richard Long und Hamish Fulton als Referenzen angibt, dann ist das absurd – da in Wien gerade eine Hamish Fulton Ausstellung läuft, kann sich jedermann von der Haltlosigkeit dieser Positionierung überzeugen. Die in „Gehen“ wesentliche Frage vom Verhältnis zwischen übersteigerter Kreativität und Wahnsinn, die in „Wittgensteins Neffe“ eine provisorische Antwort findet, bleibt hier völlig ausgespart. Auch der rätselhafte jahrzehntelange Auslandsaufenthalt eines Protagonisten, der verschlüsselt auf die nationalsozialistische Verfolgung verweist, der viele Bernhard-Protagonisten ausgesetzt waren, bleibt unkommentiert.
Das Langzeitprojekt, mit dem – und zwar am Beispiel der Familie Schuster in „Heldenplatz – allmählich klargestellt wird, warum alle die Wertheimer, Reger und andere ins Ausland mussten, ist auch Irmtraud Götz von Olenhusen nicht aufgefallen, die sich in ihrer Arbeit zu „Bernhards Dramen und die Geschichtskultur“ fast ausschließlich mit dem „Deutschen Mittagstisch“ und „Heldenplatz“ beschäftigt. Zu diesem Beitrag sei übrigens ein energischer Widerspruch angemeldet: alle Mitglieder der Familie Schuster haben sich – so das Personal – schon in der Irrenanstalt „Am Steinhof“ in Behandlung befunden. Kann man sie wirklich als „ganz ’normale‘ Österreicher“ bezeichnen, wie das Olenhusen tut? Der status quo der (zeitgeschichtlichen) Forschung wird hier übrigens tatsächlich überschritten: Kurt Waldheim, so lesen wir, „war als SS-Offizier für Erschießungskommandos auf dem Balkan verantwortlich“. Eine Neuauflage der Waldheim-Debatte ist hier nicht am Platze, aber so war es nicht, ja alles wäre einfacher abgelaufen, wenn es so gewesen wäre.
Es gibt eine Grenze zwischen fahrlässiger Überinterpretation und Manipulation und einige Beiträge des Bandes scheinen die zu überschreiten. In dem Obduktionsbericht des Doktors in „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ wird eindeutig ein Mann seziert. Am Ende wird der Penis der Leiche entfernt, der Mann wird kastriert, dazu hat sich etwa Bettina Hartz in einer jüngst erschienen Monographie einige Gedanken gemacht. Claudia Liebrand beruft sich auf die „Regeln des phallischen Monismus“ und verwandelt die männliche Leiche in eine weibliche, was ihr Gelegenheit gibt, Elisabeth Bronfens Buch über die Funktion weiblicher Leichen in der Kunst heranzuziehen, ein Text, der tatsächlich für Bernhard und seine tote Wirtin in „Verstörung“ und seine tote Mutter in „Auslöschung“ relevant ist – nicht aber für den „Ignoranten“. Ähnlich ärgerlich sind Identifikationen zwischen dem Autor und seinen Figuren, wie sie etwa dann vorgenommen werden, wenn – unter Berufung auf Reger in „Alte Meister“ – behauptet wird, Bernhard hätte „bekanntlich Kunsthistoriker verachtet“. Lassen wir die Frage, wie das mit dem status quo der Bernhard-Forschung jetzt wirklich aussieht – die Ankündigung, über ihn hinauszugehen hat dieser Band nicht eingelöst.