Der schmale Band hebt an mit einer Atmosphäre des Unbehagens in einer grollenden, bedrohlichen Natur. Und sogleich begegnen den Leser:innen die wichtigsten Bilder und Elemente, die den Rest der Textsammlung bestimmen werden. Die Naturgewalt wird mit der menschlichen Zivilisation kontrastiert. Hier ist es schlicht ein Zimmer in einem Haus, über das ein Gewitter hinwegzieht und darin „auf dem Bildschirm die klaffende Wunde“. Eine Reflexion des Schreibprozesses oder der Schriftsteller:innen-Existenz deutet sich an.
Derartiges begegnet uns immer wieder in diesem Buch und immer mit dem Fokus auf die Mühe und das Leidvolle der Spracharbeit: Viele Seiten später, in einem anderen der titellosen und nicht nummerierten Texte, verschwindet beispielsweise ein Gedicht spurlos vom Papier oder der Erzähler läuft „auf der Flucht vor den Wörtern“ durch die Wohnung. Schließlich wird die Sprache überhaupt von der Landschaft verschlungen. Felssturzartig bröckeln Wörter ab und rutschen talwärts, ein Bergrutsch nimmt ganze Sätze mit sich. So wie hier sind die Miniaturen generell über weite Strecken mit Surrealem angereichert und oft gänzlich traumartig.
Es gibt dabei eine erlebende Instanz, einen Menschen, der durch die realen und weniger realen Welten wandelt. Zu erwähnen ist, dass Xaver Bayer „man“ als Personalpronomen fürs Erzählen gewählt hat, das gleich in der allerersten Zeile eingeführt wird. Es dient jedoch kaum der Erzeugung von etwas Über-Persönlichem oder als Brennglas für kollektive Erfahrungen, wie man vielleicht erwarten könnte. Die Perspektive bleibt über weite Strecken personal und „man“ könnte wahrscheinlich ebenso gut durch ein Ich, ein Sie oder Er oder vielleicht durch ein Du ersetzt werden.
Bisweilen verschwindet das Personale jedoch auch völlig, wie im zweiten und längsten Text: Hier changiert die Erzählperspektive auf spannende Weise und lässt sich nicht greifen. Von einer Aufschrift auf der Außenseite einer Kirche, die irgendjemand hinterlassen haben muss, wandert erst noch eine – zumindest implizite – Erzählfigur die Wand entlang, bleibt an einer Pietà hängen, beschreibt dort Jesus, ohne seinen Namen zu nennen, als „halbnackten, offenbar toten Mann“. Die Perspektive beginnt sich im Kircheninneren dann zu weiten und streckt sich in der Zeit. „Manchmal tritt jemand ein und bleibt zögernd stehen, wie auf einem Amt (…).“
Das wie in Zeilen oder Schichten ablaufende Leben in den verschiedenen Etagen eines Wohnhauses kontrastiert die vorangegangene Szenerie. Bauarbeiter sind am Werk und rufen vom Dach herunter. Hier verschwindet alles Personale nun zur Gänze und der Text berichtet uns von einem unmöglich wahrzunehmenden Detail in einer der Wohnungen, wo jemand Bücher in Bananenkisten schlichtet: „In einem der Bücher sind alle Wörter, die Farben bezeichnen, unterstrichen (…)“, schildert der Text und setzt sogar noch nach: „doch das bleibt jetzt unsichtbar.“
Wie in einem Panoptikum sind die Bewohner:innen der verschiedenen Stockwerke von außen in der Gesamtschau sichtbar, können einander jedoch nicht sehen. Der fast schon stilllebenhafte Text wird jäh durchbrochen und beendet. In der Schuttrutsche der Baustelle staubt es und etwas rasselt lautstark vom Dachgeschoss hinunter auf Gehsteigniveau – es ist der fallende Bauschutt, der die getrennten Lebenssphären symbolisch verbindet.
Diese Symbolik und Bildsprache erzeugen eine spezielle Form von Melancholie. Die Begrenztheit des Menschlichen und ein Eingesperrt-Sein in der individuellen Existenz begegnet uns in allerlei Schattierungen. Gerade Schutt und Ruinen dienen dabei als zentrale Metaphern: zerfallende Neubauten, dystopische Szenen in planierten Gärten oder Zukunftsvisionen, in denen von uns nicht mehr bleibt als die Köpfe auf den Altbau-Fassaden, die steinernen Ebenbilder des Menschen, die ihn überlebt haben und als Einziges noch aus dem Schutt ragen.
Oft wandelt sich die Melancholie in ein Staunen über das Sein oder wird von ihm begleitet. Die Reflexion über die Kleinheit der eigenen Existenz eröffnet also zugleich ein Gefühl von etwas anderem, etwas Großem. Dann umgibt die Texte ein hinterweltlicher Schimmer. Der Anlass kann ein kleinstes Detail sein, beispielsweise ein desorientierter Schmetterling. Durch sein Auftauchen verwandelt sich plötzlich der Charakter des Daseins überhaupt. Der Mensch wird sich seines In-der-Welt-Seins bewusst und fragt sich, wie er aus der Welt „je wieder hinausfindet“, so wie der von ihm beobachtete Schmetterling aus dem Zimmer, in das er sich verirrt hat.
Am stärksten wird diese existenzielle Melancholie vielleicht auf Seite 25 in eine Metapher gegossen. Hier ist die Rede vom „Geschehen“, das „die offene Schranke passiert und sich eigenmächtig auf der Deponie ablädt“. Der menschliche Geist, das individuelle Bewusstsein, ist hier nicht mehr als eine sinnlos registrierende Instanz. „Wie hat man diesen Posten eigentlich bekommen?“, fragt sich der Erzähler, der genauso gut auch nicht da sitzen könnte, in seinem Container an der Einfahrt zur Schutthalde der Ereignisse. Es würde keinen Unterschied machen, stellt er fest. Der Tod ist folglich nur das beiläufige und routinemäßige Schließen der Schranke, das „Ende der Öffnungszeit“.
Während viele Texte sich auf das Einfangen von Momenten, auf das Beschreiben von leisen und feinen Details der Realität konzentrieren, so geht es doch immer wieder so gleichnishaft und philosophisch durchsetzt zu wie oben beschrieben. Die am größten angelegte Parabel findet sich wahrscheinlich auf Seite 38. Es begegnet uns eine metaphorische Abhandlung über den Denkprozess. Da gibt es Schmugglerpfade, Gedankenesplanaden und Chausseen, auf denen sich der Geist bewegt. Oder asphaltierte „Einfallstraßen des mechanischen Denkens“.
Diese literarischen Modellversuche, diese poetischen Simulationen grundlegender menschlicher Realitäten sind jedoch immer so angelegt, dass sie sich nicht vollständig deuten und in Sinn übersetzen lassen. Die Texte verzichten auf eine Schließung der logischen Kreise und drehen an den richtigen Stellen ins Enigmatische ab. So wie im oben geschilderten Beispiel, wenn gegen Ende des Textes langsam die „Wurzel des Gedankengeflechts“ ins Blickfeld rückt, „die schwarze Sonne“, und der Weg dorthin sichtbar wird, der ausgetreten ist von denen „ohne Augenlicht“, denen „ohne Wahl“.
Xaver Bayer war schon zu Anfang seines Schaffens ein Meister der Melancholie. Sein Debüt, Heute könnte ein glücklicher Tag sein, liegt nun über zwanzig Jahre zurück. So surreal und dystopisch, wie es nicht nur im vorliegenden Band, sondern auch in den 2020 mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichneten Geschichten mit Marianne zugeht, waren Bayers erste Romane noch nicht. Es handelte sich um durchwegs realistische Erzählungen, bedrückende, wie wahllos mit einer Schere aus einem gleichförmigen Lebensstrom herausgeschnittene Zeugnisse einer urbanen Existenz, die ihrem Besitzer beständig durch die Finger rinnt wie Sand. Ähnliches klingt in Xaver Bayers Schaffen immer noch an. Und wenngleich der in „man“ unterschlagene Erzähler nicht ganz verschwunden ist und die Wahrnehmungen und Phantasien nicht vermögen, völlig frei umherzufliegen, so ist dafür die Form umso ungebundener, der Inhalt phantastischer, gleichnishafter und natürlich, wie der Titel des Buches schon sagt, poetischer. Der Erdzählstrom wird so selbst zum Flaneur – eine Figur und Haltung, die immer schon gerne im Kontext von Xaver Bayers Schaffen verwendet wurde.
Jakob Kraner, geboren 1986, aufgewachsen im Waldviertel, lebt seit 2005 in Wien. Er studierte Philosophie an der Uni Wien und Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Er schreibt Prosa(miniaturen), Essays und dramatische Texte, macht Lesungen, Literaturperformances und Musik. Zum Beispiel: Die Theaterstücke Jolt für das Nachwuchsprojekt des Garage-X-Theaters (2012) und Versuch, irgendetwas zu verstehen für das Waldviertler Hoftheater (2023), Interdisziplinäre Projekte für das Viertelfestival Niederösterreich, zuletzt ROA! (2023), FLÄCHE – literarische Live-Doku mit Matthias Vieider, uraufgeführt im Literaturhaus Wien (2016). Teil der Literaturpunkband Smashed To Pieces. Seit 2012 Mitorganisator der Schreibwerkstatt Waldviertel.
Zuletzt mit einem Projektstipendium des BMKÖS und dem Kulturpreis der Landes Niederösterreich 2023 ausgezeichnet. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien wie Triëdere, Schreibheft und kolik. 2022 erschien sein Buchdebüt Kosmologie in der Reihe „Rohstoff“ bei Matthes & Seitz.