#Roman
#Debüt

Pluton oder Die letzte Reise ans Meer

Sebastian Schinnerl

// Rezension von Michaela Schmitz

Er riecht. Und lässt sich nicht vertreiben. Der Tod. Kommt immer wieder zurück. Wie Herr Uhlsamen. Der untote Zimmergenosse von Herrn Sauvegarder. Da sitzt er auf seinem Sofa und riecht nach Verwesung.

Was ist dagegen zu tun? Mit einer von Sauvegarders geliebten Churchill-Zigarren den Geruch verscheuchen? Den Gestank in edlem Wein ertränken? Oder den übelriechenden Intimgeist mit dem Stock in den Schrank bugsieren? Letztlich hilft nichts. Den Tod kann man nicht ignorieren und Uhlsamen nicht davonjagen. Er bleibt hartnäckig. Selbst beim Essen sitzt er am Tisch, ein Mottenpapierhütchen auf dem fast kahlen Schädel. Dabei wollte Sauvegarder, der Ich-Erzähler von Sebastian Schinnerls Debütroman Pluton oder Die letzte Reise ans Meer, hier doch eigentlich seinen friedvollen Lebensabend verbringen. In diesem Rückzugsort für Wohlhabende. Einem exquisiten Betagtenheim im luxuriös ausgestatteten Klostergebäude. Als ehemaliger Investmentbanker mit einem Aktenkoffer voller Geld im Gepäck kann er sich das leisten.

Aber der tote Uhlsamen lässt ihm keine Ruhe. Und unversehens wird der rüstige Zweiundneunzigjährige in der komfortablen Seniorenresidenz auch noch vom Mensch zum Fall degradiert. Etagengouvernante Rävenstraal macht in einem schwarzen Dossier laufend Notizen über sein Befinden. Dr. Strösser verordnet ihm prophylaktisch Anti-Alzheimer-Medikamente. Und Psychologin Frederikke Winterlicht erklärt Sauvegarder, dass seine psychologischen Störungen auf der Alltäglichkeit des Sterbens basieren. Weil „man nicht merkt, wenn man stirbt, das sei nicht Verrücktwerden, das sei normal. Der Sprung in die Normalität bedeute, dass man das Sterben realisiere, und der Rückfall in das Denken Wahnsinn…“ Normal wie die aufgetakelte Szerenna Sintajka, die Sauvegarder nachts mit ihrem gefüllten Nachttopf besucht. Normal wie die verwirrte Greisin, die über den Gang geistert und ihr Herz nicht fühlt. Normal wie Marlon Manser, der bullige Hosenträger-Unterleibchen-Mann, der akribisch die Alzheimer-Medikamentation überwacht. Und normal wie die alte Dame, die an seine Tür klopft, um zu fragen, ob Herr Sauvegarder gestorben sei.

Wo also ist die Rettung vor dem alltäglichen Wahnsinn des Sterbens? Sauvegarder versucht vergeblich, sich hinter seinem Wohlleben zu verschanzen: Er hüllt sich in edlen Zigarrenrauch und seinen sündhaft teuren Bärenfellmantel, trinkt ausgewählte Weine und bezahlt das serbische Zimmermädchen Alestine V. für kleine erotische Gefälligkeiten. Aber im Haus herrscht Rauchverbot, der untote Geist Uhlsamen trägt jetzt seinen Mantel, Dr. Strösser verbietet ihm Alkohol und Schwester Rävenstraal jagt Alestine aus dem Haus.

Mit Sauvegarder geht es rapide bergab. Die Zeit vergeht. Seine Geschichte beginnt, sich zu verschieben. Es gelingt ihm nicht mehr, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. „Man hat mir nie die Wahrheit gezeigt. Keiner (…). All diese Konzepte und Einsichten des Lebens (…). Und plötzlich, mit dem Eintreten in dieses Betagtenheim war mir die Ahnung gekommen: Da war etwas, was mir mein Leben lang vorenthalten worden war.“ Er möchte zurück. Aber: Es gibt keine Ausgänge! Es gibt kein Zurück. Der erfolgreiche Geschäftsmann steht vor der völligen Fassungslosigkeit des Todes. Als „Obdachloser des Sterbens“, fröstelnd vor Hoffnungslosigkeit, muss er erkennen: Der Tod beschließt alle Strukturen. Wir sind niemand mehr. Verzweifelt sucht er Rat in den täglichen Nachrichten der Börsenzeitung. Und versucht erfolglos, sich im Tagebuch ein letztes Mal seiner selbst zu vergewissern: „Es galt festzuhalten: Mein Name ist Herr Sauvegarder. Ich bin Investmentbanker.“ Festhalten ist die Devise. Das ist das Wichtigste. Denn erst, wenn es keine Zeit mehr gibt, wenn wir uns nicht mehr erinnern können, wenn dieser Augenblick der einzige ist, dann ist es wirklich aus mit einem. Vielleicht gelingt der Ausbruch? Noch kennt er seinen Namen. Noch ist er nicht am Ende. Noch liebt er Hütchenfräulein Helene. Die alterslose Schöne will fort. Eine letzte Reise ans Meer. Mit ihm und dem nur für sie beide sichtbaren jüdischen Jungen Tsigan, Sauvegarders Alter Ego. Uhlsamen, so wirklich und unwirklich wie stets, immer dabei. Und sie weiß einen Ausweg. Aber der angeschlagene Greis streikt. Helena flieht in die Freiheit und Sauvegarder in den Wahnsinn des Denkens: „Wann beginnt der Traum zu sterben? Stirbt er am Tod? Ist der erloschene Traum der Tod? Und was ist an dessen Stelle dann?“

Sauvegarder realisiert, dass es nie wieder normal werden wird. Dass es vielleicht sogar nie ein normales Leben gegeben hat. Er ist auf dem Tiefpunkt angekommen, „auf Wurmarschhöhe sozusagen, bei den erniedrigungsgewohnten Trotteltoten.“ Es kommt das Ende, aber es kommt anders als erwartet. Er ahnt: Ein würdevolles Sterben gibt es nicht. Und als er sich nicht mehr erinnern kann, ist es aus. „Wenn die letzte Hoffnung zu erlöschen droht, dann beginnt das Ein- und Autatmen.“

Mit seinem Romandebüt, in dem er als literarischer Pluto in die Welt der Toten führt, hat es sich Sebastian Schinnerl nicht leicht gemacht. Denn seine Geschichte handelt von Schlimmerem als vom Tod: von der Alltäglichkeit des Sterbens. Vom langsamen „Immer weniger werden“. Vom allmählichen Verfall des Körpers und der Erinnerung. Vom Vergessen und dem Zerfall des Subjekts, das ganz zuletzt nicht einmal mehr von sich selbst weiß. Am Schluss starrt das namenlose Ich entsetzt in die Leere. Das Nichts. Ein unnennbarer Schock, den Schinnerl zu fixieren sucht, indem er seine Figuren und die Sprache an ihre eigenen Abgründe führt. Ein schwieriges Projekt, das nicht immer gelingt. Der grotesken Farce hätten ein wenig mehr komödiantische Absurdität und humoristische Ironie sicherlich gutgetan. Denn was ist eine bessere Antwort auf das tägliche Sterben als das Lachen?

Sebastian Schinnerl Pluton oder Die letzte Reise ans Meer
Roman.
St. Pölten, Salzburg: Residenz, 2005.
252 S.; geb.
ISBN 3-7017-1421-5.

Rezension vom 08.08.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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