#Roman
#Debüt

Pinguine in Griechenland

Silvana Steinbacher

// Rezension von Birgit Schwaner

Selbsttäuscher, Glückssucher (so wie wir)

Protagonist Nr. Eins heißt Boris, ist fünfundvierzig, so überdurchschnittlich intelligent wie korpulent, und hat sich sein Dasein in einer „mittelgroßen“, österreichischen Stadt „recht gemütlich“ eingerichtet. Als freiberuflicher Statistiker, der für Spitäler „Analysen zur Qualitätssicherung“ und Prognosen zu Krankheitsverläufen verfasst, kennt er, wie es scheint, nicht Ehrgeiz noch Neid oder Leidenschaft, denn, heißt es einmal: „sein unerschütterlicher Gleichmut, man könnte ihn auch als Lethargie bezeichnen, schützt ihn vor Abstürzen“.
Völlig anders verhält es sich mit Protagonist Nr. Zwei, dem Schauspieler Harald, der etwa so alt ist wie Boris und sein langjähriger bester Freund: Pflegt Boris den sicheren Status quo und scheut das Risiko, sucht Harald nach Herausforderungen, deren Bewältigung ihm den „nächsten Kick“ verschafft, den nächsten Moment rauschhafter Euphorie, die derjenigen gleicht, die er als Leiter und Star eines Provinz-Improvisationstheaters beim Schlussapplaus auf der Bühne erfuhr …

So ungefähr könnte ein Steckbrief der beiden Antihelden beginnen, die Silvana Steinbacher in ihrem literarischen Debüt Pinguine in Griechenland für vier Wochen als Touristen auf eine Insel versetzt und dort abseits gewohnter Alltagstrukturen und sozialen Netze mit sich selbst konfrontiert – ein Prozess, zu dem auch hier, wie in jeder Freundschaft, die den Namen verdient, Vergleiche, Missverständnisse, Sorgen und Diskussionen gehören. Vom Aufenthalt am Meer erwartet man sich einiges: Boris – findet Harald – soll wieder Schwung in sein ereignis- und liebeleeres Leben bringen, wohingegen Harald – meint Boris – sein inneres Gleichgewicht wiederfinden muss. Derlei ist natürlich leichter voneinander erwartet als für sich bewerkstelligt. Zumal manches schon bedenklich aus dem Lot geriet: Wird Harald seit einer Nierenkolik von Panikattacken überfallen, sobald er sich auf die Bühne wagt, so hat Boris seit Monaten Halluzinationen, die er aber – ein weiterer Grund zur amicalen Sorge – nicht ernstnimmt (z.B. als Anzeichen einer beginnenden Psychose), sondern amüsiert registriert, sogar als „Gratis-DVDs“ zu genießen scheint.

Das Buch beginnt mit der Schilderung einer dieser Sinnestäuschungen – einer surrealen Szene, in der übergroße Männer in schwarzen und blauen Trainingsanzügen aus Polyester, alle mit den gleichen bleichen, aufgedunsenen Gesichtern, alle mit Einkaufstaschen und Handys versehen, im Gleichschitt aus den Läden in Boris‘ oberösterreichischen Heimatstadt treten und mehr und mehr den Gehsteig bevölkern. Boris beschreibt die halluzinierte, albtraumhafte Kundenhorde am ersten Urlaubsabend in der Taverne einer ebenfalls gerade eingetroffenen österreichischen Touristin, während der nervöse Harald aufspringt und spazieren geht, wiederkommt, die anderen zu einer zweiten Flasche Wein überredet, kurz darauf nach Kaffee verlangt … Bald resümiert Boris‘ Zuhörerin, Frau Konrad: „Der eine hyperaktiv, der andere verrückt, eine allein reisende Frau in ihrem Alter kann sich ihre Gesellschaft offensichtlich nicht aussuchen (…).“
Frau Konrad verschwindet noch am selben Abend wieder aus der Geschichte; mehr als die Nebenrolle einer einmaligen Gesprächspartnerin, die uns jedoch einen Blick „von außen“ auf das Freundespaar gestattet, ist für sie nicht vorgesehen. Flüchtige Urlaubsbekanntschaften wie diese machen Touristen ja allemal, wenn sie in der auf sie zugeschnittenen, doch fremdsprachigen ‚Fremde‘ den Kontakt zu Landsleuten suchen. Der Reiz dabei mag ein doppelter sein: Während man einander Anekdoten aus dem – kurzfristig fernen – Zuhause erzählt (sozusagen ausschweift und Anker setzt in einem), wird der Urlaubsort zum Nebenschauplatz dieses Zuhause, das Ausland zu einem Stück Inland. So verwandelt sich eine griechische Insel im Handumdrehn in eine – mit Meeresküste, griechischer Küche und mediterraner Vegetation ausgestattete – Österreicher-Dependance, die, im Sinne der Freizeitkonsum-Industrie, abwechselnd zum Erholungs-, Selbsterfahrungs- und Abenteuerspielplatz (letzteres im doppelten Sinn) wird. Das ist auch bei Silvana Steinbacher der Fall und wird so realistisch und zutreffend beschrieben, dass bereits diese Umgebung die geschilderten Personen – außer Boris und Harald noch zwei Männer (Armin, Martin) und eine Frau (Sandrina), ebenfalls made in Austria – im ‚irregehenden Verfolgen‘ ihrer Wünsche in ein zumindest mild-tragikomisches Licht rückt. Schließlich handelt es sich um Erwachsene im teil-desillusionierten Alter „plus-minus vierzig“, die, salopp gesagt, ihr Leben korrigieren wollen und sich bemühen, die sie beschleichende Ahnung ihres Gescheiterseins abzuwehren: Selbsttäuscher, Glückssucher (so wie wir).
Als LeserIn meint man daher bald, dem einen oder der anderen schon begegnet zu sein und nimmt – auch aufgrund der präzisen, detaillierten Darstellung scheinbar banaler Szenen – mit wachsendem Interesse Anteil an ihnen. Ein weiteres Spannungsmoment im Rahmen dieser fast kammerspielartigen, eher an eine Novelle als einen Roman erinnernden, um das zeitlose Thema des „richtigen Lebens im falschen“ kreisenden Geschichte: Unter der souveränen Blickregie der Autorin wechselt immer wieder die Perspektive auf die einzelnen Charaktere – deren Aufeinandertreffen schließlich einiges in Gang setzt. Und dies, wie sollte es anders sein, vor allem beim Rationalisten der zusammengewürfelten Gruppe: dem Statistiker Boris, der Sätze sagt wie: „Wir befinden uns zwar, wenn wir Glück haben, erst in der Mitte unserer Jahre, aber eigentlich ist unser Leben im Großen und Ganzen gelaufen“ (S. 154) und demgemäß stoisch auf Bewährtes baut, obwohl seine Phantasie längst ausbricht und ihm am helllichten Tag surreale Bilder vorgaukelt wie das titelgebende von Pinguinen, die in einem Pinienwald stehen und miteinander reden, als seien sie Geschäftsleute.
Boris lernt den Zeithistoriker Armin kennen, der auf der Insel bisher zum regionalen Widerstand gegen die deutschen Besatzer im zweiten Weltkrieg forschte, und verliebt sich in Armins Freundin Sandrina. Auch Sandrina, eine attraktive Rechtsanwältin, fühlt sich zu Boris hingezogen – weder sein Aussehen noch seine Halluzinationen („diese seltene Begabung“, S.76) scheinen sie zu stören – zumal sich die Beziehung zwischen ihr und Armin nach sieben Jahren totgelaufen hat; für beide soll der Inselurlaub die Antwort bringen, ob eine Wiederbelebung lohnt. Außerdem gibt es noch den Ex-Banker Martin mit dem griechischen Profil, der nach einer verpatzten Karriere von seiner erfolgreichen Gattin zum Nachdenken in den Urlaub geschickt wurde und der ebenfalls ein Auge auf Sandrina geworfen hat … Was Boris aus seiner inneren Balance wirft (und ihn eines Nachts hinter die Kulissen des Hotelbetriebs blicken lässt) – während Harald, der das erotische Hin-und-her der anderen wie eine Bühnenszene betrachtet, halbwegs die seine wiederfindet, als er sich mittels Fasten, Schlafentzug und Alkoholexzess in einen Zustand luzider Erschöpfung vorkämpft. (Freilich langfristig: kein Lebensmodell.)

Ohne mehr zu verraten: Zwischen Strand, Taverne und Hotelzimmer setzt Silvana Steinbacher ihre Figuren, und da besonders die beiden Freunde, einem Wechselbad der Gefühle aus, zeigt uns ihre Einsamkeit, ihre Gespräche, Zweifel und Entgleisungen – wie ihre Versuche, glücklich zu werden. Was sogar im Kleinen gelingt. So findet, nach einigen Verirrungen, das Liebespaar Boris und Sandrina letztlich zusammen, allerdings zaghaft, zweifelnd, und mit einem großen Fragezeichen, was die Zeit nach dem Urlaub angeht. Schlussendlich sehen wir, wie ein Gruppenporträt, die fünf im Flughafencafé, wo sie von einer Unbekannten beobachtet werden, die versucht zu erraten, wie sie zueinander stehen – und sich gründlich irrt. Andererseits wäre aus ihrer Sicht die Geschichte eine völlig andere geworden …
So schlägt die Rezensentin Pinguine in Griechenland zu und hört doch nicht auf, darüber nachzudenken. Man könnte bei diesem bemerkenswerten Erstlingswerk vom Psychogramm einer Altersgruppe (anhand einiger beispielhafter Typen) sprechen, aber auch von Grundlegenderem – wie der literarischen Verarbeitung der Frage, was in fortgeschrittenen Jahren vom Dasein zu erwarten ist. Inwieweit man, unter der existentiellen Last der Glückssuche, von den Täuschungen der Konsumgesellschaft geleitet wird – und wie viel Selbsttäuschung noch im Erkennen liegt (oder auch, siehe Boris, im Sich-Beschränken auf „rationales“ Denken, wenn es um die eigene, komplexe Persönlichkeit geht) … Bezeichnenderweise findet etwa der Schauspieler Harald sein Leitbild für das ultimative Glücksziel nicht in seiner eigenen Erinnerung, sondern – medial vermittelt – auf dem Fernsehmonitor, in der Nahaufnahme einer Eiskunstläuferin während der Kür (S. 26). Hat der Theatermann tatsächlich eine „wahre“ Empfindung/Euphorie im Gesicht der strahlenden Sportlerin erkannt? Ein schaler Nachgeschmack bleibt bei dieser Vorstellung jedenfalls zurück. Und als Metapher genommen wäre der Tanz auf dem Eis weiter zu hinterfragen. Man denke nur an Kafkas berühmtes Diktum, dass ein Buch sein müsse wie eine Axt für das gefrorene Meer in uns. Das muss nicht immer sein – manchmal reicht ein Spiegel, aus Scherben zusammengesetzt, die das brüchige Bild präzise in seinen vielen Facetten wiedergeben.

Silvana Steinbacher Pinguine in Griechenland
Roman.
Weitra: Bibliothek der Provinz, 2017.
196 S.; brosch.
ISBN 978-3-99028-666-1.

Rezension vom 12.02.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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