#Essay

Permanente Revolution der Begriffe

Robert Menasse

// Rezension von Christine Schranz

Robert Menasses Permanente Revolution der Begriffe ist ein schmaler Suhrkamp-Essayband, aber nicht immer leichte Kost. In acht Vorträgen wendet sich der Autor an die „Sehr geehrten Damen und Herren!“, um all jene Begriffe zu hinterfragen, zu interpretieren und zu dekonstruieren, die durch ihre permanente Verwendung in Alltag, Medien, Politik und „Kultur“ so abgenutzt sind, dass sie beständig Gefahr laufen, ihre Bedeutung zu verlieren: Die Konzepte Arbeit, Religion, Europa, Demokratie, Öffentlichkeit, Kultur, Sucht und Kritik und ihre jeweiligen Implikationen werden hinterfragt, in ihren geschichtlichen Hintergrund gesetzt, mit persönlichen Anekdoten verbunden und mit spitzer Feder auf den schriftstellerischen Seziertisch gelegt.

So widmet sich der erste Essay dem Satz Arbeit macht frei und der Frage, ob die Nazis ihn ebenso zynisch gemeint haben, wie wir ihn zu verstehen beschließen, weil allein die zynische Interpretation ein Sprechen über Arbeit noch möglich macht. Nicht unähnlich der Utopie Rudolf Höß‘ unterwerfen wir uns auch heute bereitwillig einem System, „um eine Freiheit zu erlangen, die dann selbst auch wieder nur ein ideologisches Produkt dieses Systems darstellt.“ Unser bereitwilliges Arbeiten für ein Freiheitsversprechen schafft eben die Unfreiheit, der wir durch die Arbeit zu entrinnen meinen. Anstatt von Arbeit, fordert Menasse, müsse Freiheit „von der Notwendigkeit der Befreiung von Arbeit“ hergeleitet werden.

Der Essay über den Begriff der Religion erklärt, dass die Aufklärung Religion nicht überflüssig gemacht, sondern ihr lediglich einen neuen Fokus gegeben hätte: nicht mehr „Gott“, sondern die Worthülse „Religion“ sei nunmehr im Zentrum des Interesses, spende sowohl Trost und mache Angst und habe die wichtige Aufgabe eines „Säkularisierungsinstruments“ im Kapitalismus übernommen: mit Berufung auf Religion ließe sich selbst das, was nicht rational erklärbar sei, in den Dienst des Kapitalismus stellen.

Der Essay über die „EUtopia“ wirft rhetorische Fragen auf. Haben Sie schon einmal über Indien, Slums, Ideale, Ethik und Wirtschaftsmacht nachgedacht? Über die metaphorischen und ökonomischen Zusammenhänge zwischen diesen auf den ersten Blick so unterschiedlichen Begriffen? Über Ihr unreflektiertes Mitmachen, das das gegenwärtige System mit all seinen untragbaren Schwachstellen reproduziert, weil es so einfach ist, die Augen vor dem Gesamtbild zu verschließen?

Im einem weiteren Vortrag liest Menasse Martin Graf als Symbol und Symptom für unsere Gleichgültigkeit und „das Versickern der Demokratie in den demokratischen Institutionen“. Es sei niemand anderes als die demokratisch gewählten Politiker selbst, die die Demokratie untergraben. Graf sei Nationalratspräsident aus „Gewohnheitsreicht“, denn in Österreich gehe bekanntlich alle Macht von der Gewohnheit aus. Auf der EU-Ebene hingegen wird Demokratie, nicht weniger undemokratisch, zum Euphemismus für Interessenpolitik, Kapitalismus, Lobbys und Pragmatismus.

Wie schon in „Ich kann jeder sagen“ tauchen auch in der „Permanenten Revolution“ Erinnerungen an den 11. September und die Ermordung Kennedys auf, und selbst die amerikanische Sonnenbrille mit Jalousien ist wieder vertreten. Als Kind, schreibt Menasse, sei er eifersüchtig gewesen – eifersüchtig auf die Gefühlswelt der Erwachsenen. Der Schock über den Mord an Kennedy verband über alle weltanschaulichen, kulturellen und ethnischen Diskrepanzen hinweg: Die Erwachsenen waren glücklich, am Unglück einen kleinsten gemeinsamen Nenner gefunden zu haben – ein ehrliches Glück und Mit-leiden, wie es Jahre später, an jenem 11. September, den Menasse selbst als Erwachsener erlebte, sich nicht mehr einstellen wollte: zu sehr war die kollektive Trauer, der kollektive Schock im „Zeitalter [der] technischen Reproduzierbarkeit“ (wie Menasse mit Walter Benjamin sagen würde) zu einer Farce, einem vorgeschriebenen Rollenspiel geworden, „die mitgelieferte vorbildliche Schockiertheit und das repräsentative Entsetzen irgendwie artifiziell, genauso künstlich wie die technisch hergestellte omnipräsente Reproduzierbarkeit dieser Bilder.“

Menasses Gedanken sind nicht neu – er bewegt sich in vertrauten linksintellektuellen Bahnen, und die Anlehnung an Adorno und im Besonderen die Dialektik der Aufklärung ist kaum zu übersehen. Als Ausgangspunkt der Überlegungen ist deutlich die Kulturkritik der Frankfurter Schule zu erkennen, die als scharfes Analysewerkzeug im aktuellen österreichischen kulturellen und politischen Diskurs dient. Viele der Gedanken werden einer linksintellektuellen Menasse-Leserschaft daher bereits vertraut sein. Wenn Menasses neues Werk auch nicht überrascht, so hat er doch in bestechender Zynik, manchmal betont polemisch, dann wieder humorvoll und jedenfalls gewohnt lesenswert eine eindringliche Aufforderung zum Nachdenken geschrieben.

Robert Menasse Permanente Revoultion der Begriffe
Vorträge zur Kritik der Abklärung.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009.
124 S.; brosch.
ISBN 978-3-518-12592-2.

Rezension vom 15.04.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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